Das Lied der Dämmerung

Einleitung

Wir schreiben das Jahr 2366 des Eisernen Zeitalters.

Ein Jahr ist vergangen, seit Omrunas und die Mursogi in der Schlacht von Varuvils Wall geschlagen wurden. Der Feind scheint besiegt, der Friede wiederhergestellt.

Schon weicht der Frühling dem Sommer, als in der Wildnis des Nordens ein seltsamer Mann erwacht. Ohne Erinnerung macht er sich auf die Suche nach seinem früheren Selbst, unwissend, dass er ein düsteres Geheimnis hütet. Noch ahnt er nicht, dass sein Erscheinen eine Zeit der Vorzeichen einläutet.

So wird der Mann zum Spielball des Schicksals, während unaufhaltsam die Erfüllung einer uralten Offenbarung heranrückt…


Taucht in die Naron-Sage ein, wie es Euch beliebt:


Leseprobe aus Kapitel I

So entdeckte er eine kleine Lichtung, auf der jemand sein Lager aufgeschlagen hatte. Um eine niedergebrannte Feuerstelle drängten sich sechs Zelte aus zerschlissenem schwarzen Stoff, die alles andere als einladend wirkten. Wie ein geordnetes Feldlager, das Soldaten als Außenposten errichtet hatten, sah es nicht aus, war es doch nicht befestigt. Aufgrund seiner fremdländischen Ausstrahlung hätte es wohl das Lager von fahrenden Händlern sein können, doch wirkte es dafür allzu heruntergekommen. Zudem waren weder Zugtiere noch Karren noch eine Straße zu sehen. Am ehesten hätte das Lager wohl noch als das Versteck einer Räuberbande durchgehen können, doch irgendetwas störte den Mann an dieser Vermutung.
Da er also nicht wusste, wem das Lager gehörte und wie ihn die Bewohner empfangen würden, näherte er sich vorsichtig. Kaum zehn Schritte vom nächsten Zelt entfernt fand er einen Baum mit niedrigen Ästen, den er erklomm. Von dort oben hatte er einen besseren Sicht auf die Lichtung, während die regennassen Blätter ihn vor unfreundlichen Augen verbargen.
Wohin sein Blick auch fiel, nirgendwo war jemand zu sehen. Nur ein einzelner Fuchs erkundete schnüffelnd die Umgebung der heruntergebrannten Feuerstelle. Ob das Lager wohl verlassen war? Wenn dem so war, hatten die ehemaligen Bewohner bestimmt nichts dagegen, wenn er sich von dem bediente, was sie zurückgelassen hatten.
Daher ließ er sich von seinem Ausguck sanft zu Boden gleiten und schlich geduckt in Richtung der Zelte. Er versuchte möglichst keine Geräusche zu verursachen, was ihm mangels Schuhwerk auch ohne Schwierigkeiten gelang. Immer wieder hielt er kurz inne, um zu lauschen, ob da Stimmen oder Schritte waren, doch alles blieb ruhig. Nur der Regen war zu hören, der ohne Unterlass auf die Zeltplanen tropfte.

Als er zwischen zwei Zelte trat, entdeckte er etwas Absonderliches. Vor ihm lag eine Leiche. Ein grüngefiederter Pfeil ragte aus ihrem Nacken. Bei dem Toten handelte es sich jedoch nicht um einen Menschen. Was da lag, hatte zwar entfernt Ähnlichkeiten mit einem Menschen und trug auch eine Rüstung ähnlich derer, wie Menschen sie trugen, war aber mit Sicherheit kein Mensch. Seine Haut hatte eine kränklich wirkende graue Farbe. Seine Hände und Füße endeten in Krallen und sein Kopf war langgezogen, fast wie der einer Eidechse, und von zwei langen Hörnern gekrönt, die nach hinten gebogen waren.
Ein Mursog, erkannte der Mann. Das war eine Bezeichnung, die er nicht vergessen hatte. Zudem wusste er, dass er sich vor Wesen dieser Art in Acht nehmen musste, da sie Menschen für gewöhnlich nicht allzu freundlich gesinnt waren.
Er kniete nieder und überprüfte den Boden im Umkreis der Leiche. Der Regen hatte die meisten Spuren verwischt, doch glaubte er die alte Fährte von mehreren Mursogi, daneben aber auch schmale Stiefelabdrücke erkennen zu können. Dabei griff er erneut auf unterbewusstes Wissen aus seinem früheren Leben zurück. Er verstand sich also darauf, Fährten zu lesen. Sein Verdacht, er wäre so etwas wie ein Jäger gewesen, verdichtete sich.
Er hielt sich nicht lange damit auf, über diese Erkenntnis nachzugrübeln, sondern sah sich vorsichtig noch ein wenig um. Er fand fast zwei Dutzend weitere Mursogi, die teils in den Zelten, teils davor eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Manchen war die Kehle durchgeschnitten worden, andere hatten Wunden wie von Pfeilen davongetragen. Seltsamerweise fehlte allen, außer dem ersten, den er gefunden hatte, das linke Horn.
Dieses Lager war ohne Zweifel das der Mursogi gewesen. Irgendjemand musste es angegriffen haben, doch gab es außer dem grüngefiederten Pfeil und den Stiefelabdrücken keinerlei Hinweise, wer oder wie viele die Angreifer gewesen waren. Aus dem Zustand der Leichen schloss er jedenfalls, dass der Kampf noch nicht allzu lange her war – einige Stunden vielleicht, allerhöchstens einen Tag.
Die Wahrscheinlichkeit war also groß, dass im Lager noch irgendetwas Brauchbares zu finden war. Nahrungsmittel, Kleidung, Waffen oder andere Werkzeuge wären ihm sehr willkommen gewesen. Während er nachdachte, spürte er plötzlich etwas Kaltes in seinem Rücken.
»Na, was haben wir denn da?«, knurrte eine hässliche Stimme. Es war ohne Zweifel die eines Mursogs.
Als er sich umdrehen wollte, drückte das Wesen ein wenig fester zu. Er spürte, wie warmes Blut über seinen Rücken lief.
»Rühr dich nicht, du Wurm!«, befahl der Mursog eindringlich. »Ihr verfluchten Menschen habt schon genug Schaden angerichtet. Gnurlok ist tot und meine geliebte Truzagnul. Sie haben ihrem Stamm alle Ehre erwiesen… Ich werde dafür sorgen, dass ihr Menschen ihre Namen fürchtet. Und meinen Namen werdet ihr fürchten… Dafür werde ich sorgen, ja.«
Der Mann spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Furcht hingegen verspürte er keine. Nun stand er schon mittellos im Regen, hungrig und mit Dreck überzogen und dann wurde er auch noch von irgendeinem dahergelaufenen Mursog bedroht.
»Warum bist du dann noch hier?«, fragte er herausfordernd. »Deine Freunde sind tot, du aber nicht. Warum? Haben sie dich verschont, weil sie Mitleid hatten? Oder bist du einfach weggelaufen und hast deine Mitstreiter wie ein Feigling im Stich gelassen?«
»Halt dein Maul, du Wurm!«, knurrte der Mursog. »Die sind tot, ich lebe. Mehr zählt nicht. Und das hier gehört jetzt alles mir. Dummerweise hast du uneingeladen mein Reich betreten. Und das bedeutet, dass dein Leben jetzt in meinen Händen liegt. Aber du hast Glück. In meinem Reich könnte ich noch einen Diener gebrauchen.«
Dieser Mursog hatte wohl den Verstand verloren und hielt sich nun für eine Art König. Doch seine Herrschaft würde nicht allzu lange andauern. Angestrengt überlegte der Mann, wie er diesen Wahnsinnigen am schnellsten unschädlich machen konnte.
»Wie wäre es, wenn du jetzt einfach diese Waffe sinken lässt?«, versuchte er es mit Vernunft, jedoch ohne große Hoffnung auf Erfolg. »Ich würde dir nur ungern wehtun.«
Der Mursog hatte nur ein verächtliches Schnauben für diesen Vorschlag übrig. Der Mann zuckte mit den Schultern. »Du hast es so gewollt.«
Blitzschnell duckte er sich. Gleichzeitig zog er seinem Feind mit einem geschickten Tritt aus der Drehung die Beine unter dem Körper weg. Der Mursog fiel mit einem überraschten Aufschrei zu Boden. Der zweite Tritt traf seine rechte Hand, sodass er sein Schwert fallen ließ. Der Mann sprang auf und blickte auf den entwaffneten und nicht mehr ganz so selbstsicheren Feind hinab.
»Ich warne dich noch einmal: Geh jetzt und ich lasse dich am Leben! Ansonsten wird das hier ein schlimmes Ende nehmen – jedenfalls für dich«, sagte er, wenngleich ihm bereits schwante, dass diese Ermahnung sinnlos sein würde.
Der Mursog rappelte sich knurrend auf, nur um sich dann mit seinen klauenbewehrten Händen auf sein Gegenüber zu stürzen. Diesen Zug hatte der Mann erwartet. Er fing mit einer Hand den Schlag des Mursogs ab, während er gleichzeitig mit der anderen zuschlug und den langgezogenen Schädel des Gegners traf. Stöhnend taumelte der Angreifer zurück.
Dieser Kampf war bereits entschieden. Wenngleich der Mann nichts hatte außer seiner nackten Haut zum Schutz und seinen bloßen Händen zum Angriff, war er dem in einer Rüstung steckenden, krallenbewerten Mursog überlegen.
Obwohl er mittlerweile bereits zu dieser Einsicht gekommen sein musste, gab sein Gegner nicht auf. Stattdessen hob er sein unförmiges Schwert vom Boden auf und versuchte es erneut mit einem Angriff.
Diesmal wich der Mann aus, indem er im letzten Augenblick zur Seite trat und dem Mursog ein Bein stellte. Wieder ging dieser zu Boden und wieder stand er auf, noch wütender als zuvor. Der Kampf hätte wohl noch stundenlang auf diese Weise weitergehen können, hätte der Mann das gewollt. Doch er wollte es keineswegs. Er war erschöpft und hungrig. Mit dieser Begegnung vergeudete er nur unnötig seine ohnehin schon angeschlagenen Kräfte.
Der Mursog setzte erneut zum Angriff an, doch diesmal kam ihm der Mann zuvor. Die Tatsache, dass er weder Rüstung noch Kleidung trug machte ihn unheimlich wendig. Vorbei am Schwert seines Feindes schlug er aus dem Lauf zu und traf, wie beabsichtigt, dessen Kehle. Aus der Drehung setzte er einen Hieb gegen den ungeschützten Nacken des Mursogs nach.
Dieser Doppelhieb wäre bei einem menschlichen Gegner tödlich gewesen, wie er wusste, und wie sich herausstellte, galt dies auch für Mursogi. Der selbsternannte Herrscher kippte vornüber und regte sich nicht mehr.
»Ich habe dich gewarnt«, sagte der Mann mit aufrichtigem Bedauern.
Dann, als die Hitze des Kampfes langsam abklang, betrachtete er nachdenklich seine Hände. Woher hatte er die Kraft und das Geschick genommen, um zu tun, was er eben getan hatte? Ein gewöhnlicher Mensch konnte keinen Feind mit nur zwei Schlägen töten, so viel war sicher.
Sein Körper schien sich an etwas erinnert zu haben, was der Geist vergessen hatte. Ein weiteres Mal fragte er sich, wer er wohl gewesen sein mochte. Besaß ein einfacher Jäger Fähigkeiten wie diese? Wohl eher nicht. Ein ausgebildeter Krieger dagegen oder ein gedungener Meuchelmörder… Das waren die einzigen Erklärungen, die ihm einfielen und vor allem die zweite gefiel ihm nicht besonders.
Nachdenklich blickte er auf den toten Mursog hinab. Er hatte soeben ohne mit der Wimper zu zucken ein Leben ausgelöscht. Eigentlich hätte er sich schuldig fühlen müssen. Dass sich dieses Gefühl in Grenzen hielt, wertete er als ein sicheres Zeichen dafür, dass dies nicht das erste Mal war, dass er getötet hatte. Ihm war alles andere als wohl bei dieser Erkenntnis. Doch er musste zumindest ein Mann der Ehre gewesen sein, sagte er sich. Sein Pflichtgefühl gebot es ihm nämlich dem gefallenen Feind die Augen zu schließen.