
Einleitung
Viele Geschichten wissen die Weisen über die Vergangenheit Saruchos zu erzählen. Jeder Ort, jedes Wesen besteht nicht nur für sich, sondern vor dem Hintergrund eines reichen Schatzes von Sagen, die diese Welt zu der machen, die sie ist.
Während manche dieser Sagen durchaus zeitlos sind und im Dienste einer tieferen Wahrheit stehen, erzählen andere von den Ursprüngen einer Begebenheit oder versuchen zu erklären, weshalb die Welt Sarucho so ist, wie sie ist.
»Sagen aus Sarucho – Band II« umfasst 24 solcher Geschichten.
Taucht ein in die Sagen aus Sarucho, wie es Euch beliebt:

Leseprobe: Der Heldentod
Auf einem Pass im westlichen Mondgebirge hauste einst ein großer Schrecken. Ein Drache war er, uralt, hinterlistig und bösartig. In lang vergangenen Zeiten mochte er dem Herrn der Finsternis gedient haben, doch war er nach dessen Fall niemandem mehr hörig und nur mehr Herr seiner eigenen Begierden. Sein wahrer Name war lang vergessen, die Bewohner der umliegenden Lande nannten ihn Althorn, den Heldentod, hatten doch viele tapfere Krieger im Kampf gegen ihn ihr Ende gefunden.
Jahrhundertelang suchte Althorn die Lande östlich des Gebirges heim, die Althaim genannt wurden. Menschen gleichermaßen wie deren Vieh jagte und verschlang er. Ganze Dörfer fielen unter seinen Flammen, während er sich vielerlei Reichtümer bemächtigte. Und doch waren die Lande am Fuße des Gebirges so fruchtbar, dass ihre Bewohner sie nicht aufgeben mochten. So lebten sie in ständiger Furcht unter der Schreckensherrschaft des Drachen.
Nun kam es, dass Elvero, der König von Erbarior, sich nach Westen aufmachte, um Althaim für sich zu beanspruchen. Jahrelang hatten unbedeutende Könige und Fürsten das Land mit Krieg überzogen, sodass manch einer den Eroberer aus dem Osten als Friedensbringer begrüßte. Doch dies tat den Kämpfen zunächst keinen Abbruch.
Eines Tages lagerte der König mit seinen Truppen im Schatten der östlichen Ausläufer des Mondgebirges. Dort erzählten ihm umherziehende Hirten von dem Schrecken, der auf der Passhöhe im Westen sein Unwesen trieb. Wenig nur wusste Elvero von den Drachen und er fürchtete sie nicht. Vielmehr sah er in Althorn eine unerwartete Gelegenheit, sich die Achtung der Einheimischen zu erwerben. Wenn es ihm gelang, das Volk von seinem Peiniger zu befreien, so dachte er, würde es sich ihm womöglich ohne weiteres Blutvergießen unterwerfen.
Als Abkömmling sowohl des erbarischen Königshauses als auch der mit ewiger Jugend und Zauberkunst gesegneten Almári war der König ein überaus stolzer und selbstbewusster Mann, zugleich aber allzu überheblich. So stieg er in seinem Übermut eines Morgens mit Schwert, Speer und Xerónos’ Schild bewaffnet, begleitet von nur zwei Vertrauten, zum Pass hinauf. Dort stellte er sich auf einen Felsen und forderte Althorn mit großen Worten zum Kampf heraus.
Sogleich stieß der Drache auf ihn und seine Gefährten herab. Schon beim Anblick des gewaltigen Geschöpfes erkannte der König, dass er einen Fehler begangen hatte, doch aus Hochmut wich er nicht zurück. Das Feuer des Drachen prallte am Schild seiner Vorväter ab und aus der Deckung hieb er nach dem Ungeheuer.
Doch Althorn schnaubte nur belustigt. Weder die Waffen des Königs noch dessen Zauberbanne vermochten seinen Schuppenpanzer zu durchdringen. Mit einem Hieb seiner Krallen streckte er einen von Elveros Gefährten nieder.
Schon sah der König sein Ende gekommen, als er beim Versuch, seinen Mitstreiter zu retten, den Schild verlor. Dennoch wich er nicht zurück. Und so verschlang Althorn den mächtigen König von Erbarior wie so viele tapfere Männer und Frauen zuvor. Zum Hohn ließ er dessen anderen Gefährten laufen, auf dass dieser die Kunde vom Tod des Königs verbreite.
Wohl fiel ganz Althaim durch die Bemühung der Kinder von Elveros Großnichte an Erbarior, doch wagte sich über Jahrhunderte niemand auf Althorns Pass hinauf und auch das Umland wurde weiterhin gemieden. Schwer kränkte die Könige Erbariors nicht nur der Verlust Elveros, sondern auch der Verlust des Schildes ihres Ahnherrn, der stets ein Zeichen ihrer Macht gewesen war, und nun unerreichbar am Grunde eines Drachenhortes lag.
Mehr als vierhundert Jahre später herrschte Reomis als Königin über Erbarior. Ihr ältester Sohn, der den Namen Reveran trug, verbrachte einen Großteil seiner Jugend in Althaim, am Sitz der Familie seines Vaters. Dort hörte er immer wieder vom Tod Elveros und der Schmach, die Erbarior an diesem Tag erlitten hatte.
Althorn lebte immer noch auf dem Pass und der junge Prinz konnte nicht verstehen, weshalb seine Mutter dies zuließ. Als er sie eines Tages danach fragte, antwortete sie nur, dass der Drache zu gefährlich sei, als dass irgendein Mensch – und sei es ein König – seiner Herr werden würde.
Damit gab Reveran sich freilich nicht zufrieden. Wieder und wieder wanderte er in Gedanken zu dem Pass und zu dem Ungeheuer, das dort verborgen lag. Eines Tages, als er kaum mehr als zweiundzwanzig Jahre alt war, zog er dann tatsächlich heimlich aus, mit der Absicht den Drachen zu töten.
Anders als sein Ahne unterschätzte Reveran seinen Feind jedoch nicht. So forderte er den Drachen nicht offen heraus, sondern beobachtete dessen Höhle stattdessen aus der Ferne. Groß war seine Furcht, als er das Untier zum ersten Mal in all seiner Pracht in den Himmel aufsteigen sah. Fast versagte ihm da der Mut, aber dennoch hielt der Prinz an seinem Vorhaben fest.
Er machte sich mit der Umgebung vertraut und wann immer der Drache nicht zuhause war, stahl er sich in dessen Höhle. Wohl nahm Althorn bald die Witterung des Eindringlings auf, doch dachte er sich nichts dabei. Allzu viele Helden hatte er bereits getötet und so war auch er dem Hochmut verfallen.
Während der Drache die Gefahr nicht erkannte, hob Reveran in einer Felsspalte eine Fallgrube aus, die er mit spitzen Felsen spickte. Zudem nahm er sich auch den Eingang der Höhle vor.
An einem verregneten Tag setzte der Prinz dann sein Vorhaben in die Tat um. Über der Höhle lauernd lockte er seinen Feind hervor. Felsen regneten auf den Drachen herab und zertrümmerten seine Flügel.
Althorn brüllte vor Schmerz, mehr noch vor Wut. Obgleich seiner Schwingen beraubt, war er immer noch ein gewaltiges mit Zähnen und Klauen bewehrtes Untier. Die Pfeile, die Reveran aus dem Hinterhalt auf ihn abschoss, prallten nutzlos von seiner Haut ab.
Daraufhin entfesselte Althorn seinen feurigen Atem gegen den lästigen Störenfried, doch siehe da: Der Regen war zu stark, als dass die Flammen allzu viel Schaden anzurichten vermocht hätten. So setzte der Drache dem Menschen schäumend vor Wut nach und ging diesem in die Falle. Hals über Kopf stürzte er in die vorbereitete Grube. Spitze Felsen bohrten sich tief in seinen Bauch. Doch auch damit war der Drache nicht besiegt.
Nun aber ergriff der Prinz seine Lanze und trieb sie mit aller Kraft in den Gaumen seines verwundeten Feindes. So starb der Heldentod, durch List und Tücke bezwungen, von der Hand Reverans, der sich fortan Marantor nannte – »Drachenfürst« in der Sprache der Gelehrten.
Von dem Schatz, den Althorn über die Jahrhunderte angesammelt hatte, nahm Marantor einzig den Schild Xerónos’. Alles andere aber verteilte er an die Bewohner Althaims. Der Drache war tot, doch der Pass, auf dem er einst gehaust hatte, trug auch lange Zeit später noch seinen Namen.