
Einleitung
Wir schreiben das Jahr 2369 des Eisernen Zeitalters.
Ein neuer Morgen bricht über dem Schlachtfeld von Oren-Tanatu an. Doch der mit vereinter Kraft errungene Sieg scheint bedeutungslos, denn weiterhin lastet tiefe Finsternis über den von Krieg geplagten Landen Saruchos.
Schwere Verluste zwingen beide Seiten, innezuhalten und ihre Kräfte neu zu sammeln. Um der beständigen Bedrohung durch die Mächte der Finsternis beizukommen, rücken dessen Feinde näher zusammen. Bündnisse werden geschlossen und Freundschaften erneuert.
Inmitten all dessen hat sich Naron endlich mit seiner Bestimmung abgefunden. Einer Botschaft aus der Ferne folgend macht er sich einmal mehr auf den Weg, an dessen Ende ihn kein geringerer als Voréos, der Herr der Finsternis selbst, erwartet.
In seiner Abwesenheit bereiten sich auch seine Freunde und Verbündeten auf den letzten Ansturm der feindlichen Heerscharen und die Begegnung mit ihrem eigenen Schicksal vor …
Lasst Euch von den Winden des Schicksals tragen, wie es Euch beliebt:




Leseprobe aus Kapitel IV
Von einem Augenblick auf den anderen war Erpantius verschwunden. Sein Licht erlosch, doch blieb der Widerschein zurück, als hielte der Nebel ihn gefangen.
»Erpantius?«, rief Naron leise. Seine Stimme hallte von den unsichtbaren Wänden der Höhle wider. Mal leise, mal laut, mal krächzend, mal säuselnd, mal knurrend. Es war, als würden hundert Stimmen seine Worte wiederholen. »Wo seid Ihr?«
Der Weise antwortete nicht. Das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde stärker. Naron zog sein Schwert. Unangenehm laut schabte die Klinge über die lederne Scheide. Dann legte sich eine tiefe Stille über die Welt. Das Grau des Nebels wurde langsam dunkler. Fast schien es Naron, als würde sein Augenlicht mit dem Schein von Erpantius’ Flamme verblassen. Er wagte es nicht, einen Schritt vor den anderen zu setzen, oder zurückzuweichen, wusste er doch nicht, wie tief der Abgrund zu beiden Seiten war.
Seiner Sinne beraubt, allein und verloren im Unlicht versuchte er, ruhig zu bleiben. War dies bereits eine Prüfung seines neuen Lehrmeisters? Doch was war mit Erpantius geschehen? Weshalb war der Weise ohne Vorwarnung verschwunden? Irgendetwas stimmte hier nicht.
In der Ferne – oder war es doch ganz nah? – durchbrach ein leises Zischen die Stille. Naron schloss seine nutzlosen Augen und umfasste das Schwertheft mit beiden Händen.
»Naron …«, murmelte da etwas in der Finsternis. Viele Stimmen schienen es zu sein und doch nur eine. Er spürte einen sanften Lufthauch.
Gerade noch rechtzeitig riss er sein Schwert in die Höhe, um einen Hieb abzufangen. Stahl traf auf Stahl. Das Klirren war so laut, dass er fürchtete, taub zu werden. Er trat einen Schritt zurück, riss seine Klinge herum und schlug zu – doch da war nichts, was er hätte treffen können.
Ein Knurren zu seiner Rechten ließ ihn herumwirbeln. Der stinkende Atem eines Schattenspringers schlug ihm ins Gesicht, als er zurückwich, um einen weiteren Schlag abzuwehren. Doch der erwartete Angriff blieb aus. So schnell es gekommen war, war das Ungeheuer wieder verschwunden.
Dann ertönte ein grässliches Lachen. Omrunas, schoss es Naron durch den Kopf. Doch das konnte nicht sein. Der Anführer der Mursogi war tot, viele Jahre schon. Verstört riss er die Augen auf und tatsächlich trat da niemand anderes als Omrunas aus dem Nebel. Ein hässliches Grinsen zierte das entstellte Gesicht mit den ungleichen Augen, als der untersetzte Mann mit zwei gekrümmten Dolchen auf ihn losging.
Hieb um Hieb wehrte Naron ab. Er hatte diesen Feind bereits zuvor bezwungen. So fand er eine Lücke in dessen Angriffsmuster und stieß zu. Omrunas’ Grinsen verblasste, als er in den Nebel stürzte und verschwand.
Naron hatte sich noch nicht von dieser unangenehmen Begegnung erholt, da erhob sich ein gewaltiger Schatten aus dem Abgrund zu seiner Linken. Gewaltige Schwingen breiteten sich über ihm aus, ein kräftiger Schweif zuckte durch den Nebel. Zwei Pranken mit langen, spitzen Krallen streckten sich nach ihm aus, während sich ein in die Länge gezogener Schädel mit einem Mund voller bluttriefender Reißzähne zu ihm herabbeugte. Antoxa, die Meereshexe, die er in Anotur getötet hatte, war gekommen, um Rache an ihm zu nehmen.
Voller Entsetzen duckte er sich unter einem Hieb der tödlichen Krallen hinweg. Zugleich versuchte er sich an einem Gegenschlag, doch das Schwert in seiner Hand war leider nicht Vallamure und so glitt es an der Haut der Meereshexe ab, ohne Schaden anzurichten.
Aus leeren Augen funkelte ihn Antoxa an, ehe sie wieder eins mit dem Abgrund wurde. Schwer atmend ließ Naron seinen Blick schweifen, in Erwartung eines weiteren Angriffes. Was war dies für ein Ort? War er, ohne es zu bemerken, ins Reich der Toten zurückgekehrt, um sich erneut seinen gefallenen Feinden zu stellen? Oder hatte er nur gegen Trugbilder gekämpft?
Einmal mehr nahm der Nebel Gestalt an und ein einzelner Mann trat aus der Dunkelheit. In schäbige Kleidung gehüllt hielt er ein Schwert in Händen. Seine bernsteinfarbenen Augen funkelten gefährlich.
»Vater?«, stieß Naron entsetzt aus. Tatsächlich sah der, der nun vor ihm stand, seinem Ziehvater sehr ähnlich. Streng war sein faltiges, von strähnigem weißem Haar umgebenes Gesicht.
Seinem Alter zum Trotz schlug Narvanros blitzschnell zu. So schnell, dass Naron ihm nicht mehr ausweichen konnte. Gerade so entging er einem tödlichen Treffer, doch ritzte das Schwert seines Ziehvaters seine rechte Wange. Kein Trugbild war dies, denn schon spürte er, wie heißes Blut sein Kinn hinabtropfte.
»Das kann nicht sein«, sagte er sich laut, während er sein Schwert hob. Als hätte er durch seine eigenen Worte Mut gefasst, ging er zum Gegenangriff über. Sein Ziehvater wich ihm aus, verschwand jedoch nicht im Nebel.
»Gut«, sagte Narvanros – oder das Geschöpf, das wie Narvanros aussah. »Ich sehe, Tranachors Schützling hat dich gut ausgebildet. So leicht lässt du dich also nicht beirren, Götterschlächter.«
»Wer seid Ihr?«, stieß Naron zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während er einen weiteren Schwerthieb abwehrte. »Und weshalb tragt Ihr das Gesicht meines Vaters?«
Das Wesen lachte. »Ich bin der Nebel, ich bin das Nichts, ich bin der, der deine Angst lebendig werden lässt …«
Es trat einen Schritt zurück. Da entstieg eine weitere Gestalt dem grauen Dunst. Wie Dalor-Nyo sah dieser Mann aus, gehüllt in eine Rüstung aus Schuppen, zwei gebogene Schwerter in Händen. Mit einem Kampfschrei in der Sprache der Aurokanisa ging der Turndura auf Naron los.
Während dieser versuchte, den anmutigen Hieben seines Gegenübers zu entgehen, bemerkte er, dass auch hinter ihm jemand war. In einen blauen Umhang gehüllt schien die hochgewachsene Gestalt beinahe mit der Umgebung zu verschmelzen.
Als Naron einen Blick unter die schwere Kapuze erhaschte, versetzte ihm sein Herz einen Stich. Es war Lurano. Einen Augenblick lang gab er sich der Hoffnung hin, sein Freund wäre tatsächlich gekommen, um ihm zu helfen. Doch auch diese Erscheinung richtete das Schwert gegen ihn.
So sah Naron sich von zwei Seiten bedrängt – von Gestalten, die die Gesichter seiner gefallenen Freunde trugen. Neben ihm schwebte sein Ziehvater im Nebel. Ein unheimliches, kaum menschliches Lächeln lag auf dessen Lippen. »Und doch wirst du versagen, Götterschlächter …«, hauchte er mit einem Dutzend verschiedener Stimmen.
Immer verzweifelter setzte sich Naron gegen die erbarmungslosen Angriffe seiner Freunde zur Wehr. Dabei trat er auf dem schmalen Pfad schließlich fehl. Einen Augenblick lang kämpfte er darum, das Gleichgewicht zu halten – doch es war vergebens. Mit einem lauten Schrei verlor er den Halt und stürzte in die nebelige Tiefe. Über sich hörte er das Lachen seines Ziehvaters – des Geschöpfes, das das Antlitz seines Ziehvaters gestohlen hatte.