
Einleitung
Wir schreiben das Jahr 2364 des Eisernen Zeitalters.
Nachdem der dritte Krieg zwischen Erbarior und Lau-Onn vor acht Jahren zu Ende ging, herrscht Frieden in den Königreichen jenseits des Mondgebirges.
Doch schon wirft ein neues Übel seinen Schatten auf Erbarior. Davon ahnt der junge Naron noch nichts. Fast langweilig erscheint ihm das friedliche Leben in seiner Heimat, dem abgelegenen Dorf Reruwalt. Von seinem Ziehvater in der Wildnis aufgezogen und an den Kampf ans Überleben gewohnt, träumt er von der Ferne.
Als unerwartet der geheimnisvolle Lurano, ein mit ewiger Jugend und Zauberkraft gesegneter Almar und alter Freund seines Ziehvaters auftaucht, nutzt Naron die Gelegenheit, seinem eintönigen Alltag zu entkommen. Eine lange Reise voll unvorhersehbarer Wagnisse beginnt, denn hinter Luranos Auftrag verbirgt sich mehr, als es zunächst den Anschein hat…
Leseprobe aus Kapitel IV
Auf den schnellen Schwingen eines kräftigen Vogels glitt er durch die nächtlichen Lüfte. Über ihm stand der Mond, so groß und voll, wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Unter ihm lag ein weites Heideland, gesprenkelt mit Bäumen, die sich bald zu einem düsteren Wald verdichteten. Kopfüber stieß er hinab, wo er eine Gestalt in einem gräulich blauen Mantel durch das Unterholz reiten sah. Getragen von kühlen Winden folgte er dem Reiter. Dann war der Wald zu Ende und vor ihm breitete sich wieder mondbeschienenes Heideland aus. Am Rande seines Gesichtsfeldes sah er schemenhaft die Umrisse hoher Berge. Er überholte den Reiter und stieg wieder hoch in den Himmel auf, den Sternen entgegen. Eine tiefe Freude erfasste ihn.
Die Umgebung begann zu verschwimmen und obwohl er immer höher und höher geflogen war, fand er sich plötzlich wieder über dem Blätterdach eines Waldes wieder. Langsam glitt er zu den Bäumen hinab und ließ sich schließlich auf dem Ast einer großen Buche nieder. Als er von dort aus zum Waldboden hinabblickte, fand er zwischen den mächtigen Stämmen von Eichen und Buchen eine Mulde. Dieser Ort kam ihm seltsam bekannt vor.
Mit einem Mal schreckte Naron aus dem Schlaf hoch. Blinzelnd richtete er sich auf. Dem Stand des Vollmondes nach zu urteilen, war es erst kurz nach Mitternacht. Das Feuer war mittlerweile heruntergebrannt und spendete kaum noch Licht und Wärme. Naron zitterte. Er fror. Sein Herz pochte so laut, dass er es sogar durch das gespenstische Heulen des Windes noch hören konnte.
Wovon hatte er da eben geträumt? Es musste etwas Beunruhigendes gewesen sein, denn der Traum war zwar verschwunden, nicht jedoch die Furcht. Er blickte zum Geäst der Bäume empor, da fiel es ihm wieder ein. Eben noch hatte er vom Wipfel dieser Buche aus den Wald beobachtet. Dort oben saß nun ein Uhu, dessen riesige, bernsteinfarbene Augen unheimlich im Mondlicht glitzerten. Narons Blick wanderte zum Stamm der Buche, auf den nur wenige Augenblicke zuvor ein Schatten zugekrochen war. Nun war dort aber nichts zu sehen, außer dem allgegenwärtigen Laub.
»Es war nur ein Traum«, sagte er sich, doch ganz konnte er sich selbst nicht vertrauen. Der Wind, die Kälte – alles hatte sich so echt angefühlt. Wie in jenem Traum, in dem er diese rothaarige Frau erschlug, stellte er schaudernd fest.
Der Uhu flog mit einem lauten Ruf davon. Angespannt lauschte Naron in die darauffolgende Stille. Sein Unbehagen wuchs, als er ein fernes Rascheln im Laub vernahm, das mit ziemlicher Sicherheit nicht vom Wind erzeugt wurde.
»Nur ein harmloses Wildtier«, versuchte er sich einzureden. Dennoch warf er seine Decke zur Seite und griff nach seinem Bogen. Mit einem Pfeil auf der halb gespannten Sehne und drei weiteren in der Schusshand schlich er, so leise es ihm möglich war, zum Rand der Mulde. Vorsichtig lugte er über die Unebenheit, die den Lagerplatz umgab.
Der Vollmond verschwand hinter einer Wolke und es wurde stockdunkel im Wald. Dennoch konnte Naron noch etwas erkennen. Nicht etwa, weil seine Augen so scharf waren – das waren sie ohne jeden Zweifel, doch in dieser Dunkelheit wäre ihm das kaum von Vorteil gewesen – nein, da war ein Fleck, der noch sehr viel dunkler war als die finsterste Nacht.
Sein Herz begann zu rasen, als sich der Schatten langsam in seine Richtung schlich. Kaum zehn Schritte vom Rand der Mulde entfernt hielt der schwarze Fleck inne und Naron vernahm etwas, das wie ein zischendes Luftholen klang.
In diesem Augenblick trat der Mond wieder hinter den Wolken hervor und hüllte den Wald in sein kaltes, blasses Licht. Nun konnte Naron zwar sehen, womit er es zu tun hatte, was er sah, erfüllte ihn jedoch nur mit noch mehr Furcht. Vor ihm stand ein Geschöpf, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. Wie eine missgestaltete Kreuzung aus Wolf und Eidechse wirkte es, nur dass es beinahe so groß wie ein Pferd war. Der lange, echsenhafte Kopf schien einem Albtraum entsprungen zu sein. Zwei rötlich schimmernde, zu Schlitzen verengte Augen glühten über dem geifernden Maul, aus dem dolchartige Hauer ragten. Der ganze ausgezehrte, sehnige Körper war mit schwarzen, abstehenden Fetzen bedeckt, bei denen es sich ebenso gut um Fell wie um Schuppen oder Stacheln handeln hätte können. Die Vorderbeine des Wesens waren beinahe um einen Fuß länger als die Hinterläufe, was ihm eine noch unheimlichere Erscheinung verließ. Die Pranken endeten in je vier gefährlich lange Krallen.
Noch hatte es Naron nicht entdeckt, während es mit zum Himmel erhobenem Haupt die Nachtluft schnüffelnd mit seinen schmalen Nüstern einsog. Naron nahm die Gelegenheit wahr und ging hinter dem dicken Stamm einer Eiche in Deckung. Der Wind verbarg seinen Geruch vor dem Untier und trug ihm den seinen zu. Es stank widerlich nach Verwesung und Fäulnis.
Was auch immer das für ein Ungeheuer sein mochte, Naron konnte sich nicht vorstellen, dass es sich dabei um ein gewöhnliches Tier handelte, geschweige denn, dass es harmlos war. Ihn beschlichen äußerst beunruhigende Gedanken. Einen Augenblick lang hatte er befürchtet, die Mursogi seien gekommen. Doch dieses Wesen hatte wenig mit jenen kleinen Geschöpfen zu tun, von denen Lurano ihm erzählt hatte. Dies war etwas anderes, etwas schlimmeres…
Der Wind stand günstig – vielleicht würde das Ungeheuer das Lager in der Mulde übersehen und einfach weiterziehen, dachte Naron. Sein Blick huschte zu Rexian, der zwischen einigen Decken verborgen, friedlich schlummerte.
Narons Hoffnung erwies sich als trügerisch, denn das unheimliche Geschöpf wandte seinen Kopf vom Himmel ab und erblickte die Reste des niedergebrannten Feuers und die Umrisse des schlafenden Königs daneben. Es fletschte die Zähne – beinahe als würde es grinsen – und kroch lautlos auf die Mulde zu.
Naron wagte es nicht, sich zu bewegen. Rexian schwebte wahrscheinlich in höchster Gefahr, doch wie konnte er ihm helfen? Wenn er jetzt schrie, würde der König vielleicht gerade noch rechtzeitig aufwachen, um zu bemerken, wie ein grässliches Ungeheuer über ihn herfiel. Retten würde ihn dies freilich nicht. Nur wenig kleiner war die Gefahr, in der Naron sich selbst befand. Er wagte es kaum zu atmen, als das Untier keine zwei Schritte entfernt an ihm vorbeischlich ohne ihn zu bemerken.
Ihm blieb keine Zeit mehr, das Für und Wider abzuwägen. So schlich er um den Stamm der Eiche herum, ging auf dem Rand der Mulde lautlos in die Knie und spannte seinen Bogen. Das Untier hatte ihm den Rücken zugewandt und beschnüffelte das heruntergebrannte Feuer. Nun würde sich zeigen, wie gut er wirklich war, erkannte er. Die Entfernung gering, die Sichtverhältnisse trotz der Dunkelheit ausreichend. Mit leicht zitternden Händen zielte er auf den langen, kräftigen Hals des Ungeheuers, um es, wenn möglich, mit einem einzigen Pfeil zu töten. Er zog die Sehne langsam bis zur Wange durch, hielt den Atem an und ließ los.
Zischend zuckte das Untier zusammen. Im letzten Augenblick hatte es den Kopf gehoben, sodass der Pfeil nun aus der Schulter statt aus dem Hals ragte. Ruckartig fuhr es herum und richtete seine schrecklichen, glühenden Augen auf denjenigen, der es angegriffen hatte.
Naron legte bereits den nächsten Pfeil auf. Doch mit seinen zittrigen Händen war er zu langsam. Mit einem einzigen gewaltigen Sprung überwand das Ungeheuer die Entfernung zwischen ihnen und riss ihn äußerst unsanft zu Boden.
Naron landete hart auf dem Rücken. Eine riesige Pranke mit messerscharfen Krallen legte sich auf seine rechte Schulter und verhinderte, dass er sich wieder aufrichtete. Grässlich stinkender Atem raubte ihm beinahe die Besinnung, als das Untier ihn anknurrte. Seine Augen glühten wie flüssiges Feuer.
Naron strampelte, um sich zu befreien, doch die Klaue, die ihn hielt, war zu stark. Schon holte das Unter mit seiner anderen Pranke zum tödlichen Stoß aus, die beinahe ellenlangen Krallen gespreizt. Im letzten Augenblick gelang es Naron, sich aus dem eisernen Griff zu befreien und zur Seite zu rollen. Er schrie laut auf, als ein stechender Schmerz seinen linken Oberarm durchzuckte.
Mit zusammengebissenen Zähnen riss Naron seinen Dolch aus der Scheide. Das Schwert hatte er zum Schlafen abgelegt, nicht jedoch den Dolch – eine Vorsichtsmaßnahme, die sich nun bezahlt machte. Mit seiner ganzen Kraft stieß er zu und versenkte das Messer tief im Bauch des Untiers.
Die Klinge durchdrang das Fleisch, als wäre es Butter. Das Geschöpf jaulte laut auf und ließ von Naron ab. Mit einem gewaltigen Sprung brachte es sich in Sicherheit. Fauchend warf es sich gegen einen Baum, schüttelte sich wie ein Hund und hinterließ dabei eine Spur dunklen Blutes. Ohne Erfolg – der Dolch hatte sich fest in seinem Fleisch verfangen.
Naron rappelte sich mühsam auf. Blut quoll aus der Wunde an seinem linken Oberarm. Plötzlich hielt das Untier inne. Zischend blickte es zuerst zu Rexian, der immer noch tief und fest schlief, und dann zu Naron, als erwöge es seine Möglichkeiten. Die glühenden Augen verengten sich, als es die spitzen Zähne fletschte. Naron brachte seine Arme, so gut es der Schmerz zuließ, in eine Abwehrstellung. Wider Erwarten begann das Ungeheuer dann jedoch zu winseln, bevor es mit einem kläglichen Jaulen das Weite suchte.
Naron sank entkräftet zu Boden. »Wundervoll«, sagte er sich. »Da bin ich gerade einmal zwei Tage unterwegs und schon fängt der Spaß an…«