Fahrgemeinschaft

Auf der anderen Seite des Schreibtisches öffnete sich ein Tor in eine andere Welt. Ich stieg hindurch und hier bin ich nun – gefangen in einer Stadt, in der der Irrsinn herrscht.

Mit wachsender Ungeduld nippte ich an einem Glas lauwarmem Leitungswasser. Immer wieder warf ich Blicke zur Straße hin. Eine halbe Stunde saß ich jetzt schon auf einem Plastiksessel in Vlad Teppichs Vorgarten und hörte mir haarsträubende Geschichten aus Mülltonis Kindheit an. So hatte ich erfahren, dass mein Freund bei seinem Onkel aufgewachsen war, der ein kleines Restaurant in der Innenstadt führte. Allerdings wurde ich durch die vielen kaum versteckten Anspielungen das Gefühl nicht los, dass Mülltonis Onkel in Wahrheit Geldwäsche für irgendein Verbrechersyndikat betrieb. Nicht, dass das in dieser Stadt etwas Besonderes gewesen wäre …
Mittlerweile hatten Mülltoni und sein alter Freund schon die zweite Flasche Wein geöffnet. Ein billiger Fusel, der nach Frostschutzmittel roch. Ich lehnte zum dritten Mal ab, als Vlad mir etwas davon anbot. Ich trank nie vor Feierabend und nur selten danach. Nicht, dass ich mir an diesem Tag Hoffnungen machte, überhaupt noch Feierabend machen zu können. Langsam fragte ich mich, ob mein Boss auf mich vergessen hatte. Einen Wagen hatte er mir versprochen, doch in der Zeit, die ich jetzt schon untätig hier herumsaß, hätte ich auch zu Fuß zu Luigi dem Lappen gehen können.
Vlad erzählte gerade zum dritten Mal eine Anekdote darüber, wie Mülltoni als Kind in einen Topf voller Tomatensoße gefallen war, da sah ich aus dem Augenwinkel ein Fahrzeug die Straße entlangrollen. Ein verrosteter weißer Lieferwagen mit einem kaputten Scheinwerfer war es, auf dessen Seite jemand in großen roten Buchstaben »Kostenlose Süßigkeiten« gemalt hatte. Mit quietschenden Reifen hielt das Auto vor dem Gartentor. Eine Wolke bläulichen Dampfes entwich, als die Fensterscheibe an der Fahrerseite geöffnet wurde.
Die Fahrerin – eine stark geschminkte junge Frau mit geröteten Augen – ließ ihren Blick schweifen. Sie wirkte, als stünde sie unter dem Einfluss irgendwelcher berauschender Substanzen. »Hey, ihr da!«, rief sie zu uns herüber, wobei sie jedes Wort in die Länge zog. »Könnt ihr mir vielleicht sagen, wie ich zum Gruftmarkt in der Blumenallee komme? Ich soll da so einen Typen abholen … Ralf der Rechte oder so …«
Ich seufzte. Natürlich hatte mein Boss mir die zwielichtigste Mitfahrgelegenheit besorgt, die er hatte finden können. Eilig stand ich auf und lief zum Gartentor. »Das wäre dann wohl ich«, sagte ich. »Wobei die meisten mich hier Randalf den Rauen nennen.«
Die Frau sah mich an, ohne mich wirklich anzusehen. »Aha«, sagte sie. »Wie du meinst, alter Mann. Na, dann rein mit dir … Ich hab schließlich nicht den ganzen Tag Zeit …«

Mit knappen Worten verabschiedete ich mich von Vlad Teppich und bedankte mich für das Wasser. Mülltoni ließ sich etwas mehr Zeit, bestand er doch darauf, seinen Wein auszutrinken. Fast war ich versucht, ihn nun doch zurückzulassen. Zumal er ziemlich betrunken war. Davon wollte Mülltoni aber nichts wissen. »Nein, Randalf«, lallte er, indem er sich auf mich stützte. »Wir sehen das gemeinsam durch. Bis zum bitteren Ende …«
Nachdem ich ihn sicher zum Lieferwagen geleitet hatte, öffnete ich die Tür zum Laderaum. Dort saßen drei schlanke Saurier in zerschlissenen Jogginganzügen, dazu ein Mädchen in einem weißen Kleid, das einen Korb voller Blumen hielt, ein stark schwitzender Priester der Kirche der Karotte und ein Riesenkakerlak, der einen grauen Anzug trug. Am Boden lag ein großer, roter Kater, der mich mit seinen gelben Augen feindselig anstarrte. Eine bunt gemischte Fahrgemeinschaft hatte Horses mir da aufgetrieben. Es würde ziemlich eng und ungemütlich in dem Lieferwagen werden.
Gemeinsam mit Mülltoni quetschte ich mich zwischen das Mädchen mit den Blumen und den Kakerlaken. Einer der Saurier schloss die Tür. Einen Momentlang saßen wir im Dunkeln, bis die Fahrerin eine kleine, vergitterte Luke öffnete, um mit mir zu sprechen. »Also, Rüdiger, wo soll’s denn hingehen?«
»Lagerhaus BH-21 unten im Hafen, wenn es keine Umstände macht«, bat ich. »Ich dachte, mein Boss hätte das schon geklärt.«
»Ja, klar, klar, klar«, erwiderte die Fahrerin gelangweilt. Sie zählte irgendetwas an ihren Fingern ab und murmelte dabei unzusammenhängende Wörter. »Gut, ich werde dich als drittes absetzen, gleich nach den drei Brüdern und dem Kater …«
Besagter Kater hatte es sich bereits auf meinem Schoß gemütlich gemacht und begann laut zu schnurren als ich ihn unwillkürlich hinter dem Ohr kraulte. Ruckartig setzte sich der Lieferwagen in Bewegung. Es versprach eine holprige Fahrt zu werden, denn die Lenkerin schien ihr Gefährt nicht sonderlich gut im Griff zu haben. Immer wieder bremste sie unerwartet ab, nur um im nächsten Moment mehr als notwendig zu beschleunigen. Zwischen den anderen Passagieren eingezwängt fühlt ich mich ein wenig wie ein Socken, der in einer Waschmaschine hin und her geschleudert wurde.
Der Priester stieß jedes Mal einen lauten Fluch aus, wenn einer der Saurier ihn beinahe unter sich begrub. Der Kater nutzte seine Krallen, um sich an meinen Beinen festzuhalten. Mülltoni taumelte durch den halben Laderaum, was ihn jedoch in keiner Weise zu stören schien. Seelenruhig plauderte er mit dem Kakerlaken im Anzug, der offenbar Manager einer renommierten Firma für Staubsauger war. Was er in dieser Gesellschaft zu suchen hatte, war mir schleierhaft, wirkte er doch durchaus respektabel.
Was man von den drei Saurierbrüdern nicht behaupten konnte. Sie versuchten nicht einmal zu verbergen, dass sie etwas Illegales im Sinn hatten. Der größte von ihnen, der eine schwarze Klappe über dem rechten Auge trug, überprüfte alle paar Minuten das Magazin einer Maschinenpistole. Der kleinste, der immer noch zwei Köpfe größer als ich war, studierte etwas, das aussah wie ein Gebäudeplan. Der dritte im Bunde umklammerte eine schwarze Sporttasche, während er die anderen Anwesenden mit finsteren Blicken bedachte.
Auch das Mädchen mit den Blumen wirkte wohl nur auf den ersten Blick harmlos. Leise vor sich hin murmelnd riss es mit einem unheimlichen Lächeln Blütenblätter ab. Sein weiße Kleidchen war voller dunkler Flecken, die verdächtig nach Blut aussahen. Was den nervösen jungen Priester betraf, so ließ er die Katze auf meinem Schoß nicht aus den Augen. Immer wieder verschwand seine rechte Hand im linken Ärmel seiner Kutte, in dem er offensichtlich einen Revolver versteckt hielt. Was er damit vorhatte, wollte ich gar nicht wissen.
Schließlich hielt der Wagen an. »Wir sind da«, sagte die Fahrerin zu dem Saurier mit der Augenklappe.
Dieser nickte seinen Brüdern zu. »Dauert nicht lange«, knurrte er. »Lass den Motor laufen! Wir sind gleich wieder da.« Damit stieß er die Tür auf und die drei Saurier trotteten davon.
Ich versuchte einen Blick nach draußen zu erhaschen. Wir standen offenbar in einer irgendeiner schmutzigen Hintergasse, von denen es in dieser Stadt hunderte gab. Also wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Kater auf meinem Schoß zu. Das Halsband, das er trug, sah irgendwie seltsam aus. Zwei in Eisen eingefasste Duliöhkarten – »Falschflaumiger Frachtfuchsfeldfriedensfinger« und »Unurige Uranuferulmenunzenurne« – hingen daran. Ich begann mich zu fragen, was ihn wohl in dieses Auto verschlagen hatte. Zu schade nur, dass er es mir nicht sagen konnte. Auch in dieser Welt waren manche Tiere einfach nur Tiere.

Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis zwei der drei Brüder zurückkamen. Aus irgendeinem Grund trugen sie schwarze Strümpfe über ihren Köpfen, was trotz der Tatsache, dass sie gefährliche Saurier waren, äußerst lächerlich aussah. Außer Atem sprangen die beiden zurück in den Laderaum. Hinter ihnen konnte ich laute Schreie und Schüsse hören. »Fahr los!«, rief der mit der Augenklappe durch die vergitterte Luke der Fahrerin zu.
»Was?«, murmelte diese, als wäre sie gerade aus dem Schlaf hochgeschreckt. »Was ist los?«
»Losfahren sollst du, wenn dir dein Leben lieb ist!«, schrie der andere Saurier.
»Wozu der Stress?«, fragte die Lenkerin betont langsam. »Wo ist denn überhaupt euer Bruder?«
»Der wird nicht kommen«, knurrte der Saurier. Er entsicherte seine Maschinenpistole. »Also fahr jetzt verdammt noch mal endlich los! Keine Fragen, wie abgemacht!«
»Schon gut, schon gut«, murmelte die Fahrerin beleidigt. Dann ließ sie den Motor aufheulen und trat auf das Gaspedal.
Während ich damit beschäftigt war, nicht den Halt zu verlieren und gleichzeitig den schlecht gelaunten Kater auf meinem Schoß zu streicheln, beobachtete ich die beiden verbliebenen Saurier, die sich leise tuschelnd miteinander unterhielten. Was auch immer sie da getrieben hatten, war offenbar grundlegend schief gegangen. Darauf deuteten auch die Sirenen, Schreie und Schüsse hin, die von draußen hereindrangen, als wir mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit durch die Straßen der Stadt fuhren. Hätte ich an diesem Tag nicht bereits so viel erlebt gehabt, hätte ich mir vielleicht Sorgen gemacht. So fand ich mich einmal mehr mit meinem unvermeidlichen Schicksal ab.

Eine knappe halbe Stunde fuhren wir kreuz und quer durch die Gegend, ehe die Sirenen verstummten und es draußen wieder ruhiger wurde. Dann blieben wir stehen, um den Kater abzusetzen. Dieser ließ mich ein letztes Mal seine Krallen spüren, ehe er zu Boden sprang und mit einem langgezogenen Miauen nach draußen stolzierte. Der Priester warf ihm einen gehetzten Blick hinterher. Einen Augenblick lang schien er kurz davor, seinen Revolver zu ziehen. Dann sackte er in sich zusammen und begann zu weinen.
Eine weitere halbe Stunde später waren wir immer noch unterwegs. Die Saurier stritten sich nun lautstark miteinander über ihren Bruder, der sie offenbar verraten hatte. Der Priester hatte sich wieder gefasst und murmelte leise Gebete vor sich hin. Der Kakerlak erklärte Mülltoni gerade, welches Staubsaugermodell am Besten für Sandstrände geeignet war. Das Mädchen war dazu übergegangen, seinen Blumen Namen zu geben, ehe es ihnen leise kichernd die Köpfe abriss.
Ich saß schweigend inmitten der anderen und dachte darüber nach, ob es nicht doch klüger gewesen wäre, zu Fuß zu gehen. Dann endlich hielten wir an und die Lenkerin verkündete: »Wir sind da, Richard, raus mit dir …«

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