In der Suppe liegt die Kraft

Auf der anderen Seite des Schreibtisches öffnete sich ein Tor in eine andere Welt. Ich stieg hindurch und hier bin ich nun – gefangen in einer Stadt, in der der Irrsinn herrscht.

Zum zweiten Mal an diesem viel zu langen Tag betrat ich ein Lagerhaus in einem der schlimmsten Viertel der Stadt. Im Gegensatz zu dem, in dem ich mich mit dem Duliöhsüchtigen getroffen hatte, wirkte dieses von Innen beinahe einladend. Vor mir öffnete sich eine geräumige, von unzähligen Lichtern erhellte Halle, in der etliche große Maschinen lautstark vor sich hin brummten. Dazwischen erhoben sich wackelige Türme aus Schachteln und ganze Berge von Altpapier. Nicht weniger als drei Dutzend Gestalten in weißen Schutzanzügen eilten geschäftig umher, bedienten Gerätschaften oder trugen Kisten mit fertig abgepackter Ware zu einem der drei großen Tore, die auf den Hinterhof hinausführten. Der unverwechselbare Duft von frisch gedruckten Spielkarten lag in der Luft.
Sogleich hielt ich Ausschau nach demjenigen, der hier das Sagen hatte. Dabei wurde mir bewusst, dass ich gar nicht wusste, wie Luigi der Lappen überhaupt aussah.
Ein Arbeiter in Schutzkleidung drängte sich zwischen Mülltoni und mir hindurch. Ich hielt ihn auf. »Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich Luigi finde?«, fragte ich höflich.
Der unscheinbare Mann warf mir einen gehetzten Blick zu. »Das wüsste ich auch gerne«, antwortete er. »Falls Sie ihn sehen, wählen Sie bitte …« Er verstummte. Bemüht unauffällig ließ er die Dienstmarke der Polizei, die er um den Hals trug, unter seiner Jacke verschwinden. Dann verschwand er ohne ein weiteres Wort zwischen zwei Druckerpressen.
Ob ich die Wachmänner am Eingang warnen sollte? Nein, beschloss ich. Die beiden hatten mir schon genug Ärger bereitet. Noch einmal mit ihnen zu sprechen, würde nur unnötigen Zeit kosten. Jetzt, da ich fast am Ziel war, gab es nur noch eines was zählte. Da sonst niemand in der Nähe war, der mir hätte weiterhelfen können, folgte ich dem Eindringling in die Halle hinein. Mülltoni schloss sich mir leise summend an.
Zwischen den Maschinen hindurch bahnte ich mir einen Weg durch die Unordnung. Wann immer ich auf jemanden traf, fragte ich nach Luigi – ohne Erfolg. Die meisten Arbeiter waren zu beschäftigt, um mich überhaupt wahrzunehmen. Diejenigen, die sich die Mühe machten, mir zu antworten, wussten nicht, wo der Fälscher war. Bei den meisten hatte ich den Eindruck, sie würden gar nicht wirklich hier arbeiten. Zwei sahen mir verdächtig nach Polizisten aus, einer wie ein Duliöhsüchtiger.
Trotz seiner beiden ach so pflichtbewussten Wachhunde hatte Luigi offenbar ein gravierendes Sicherheitsproblem. Es war ein Wunder, dass seine Operation nicht schon längst aufgeflogen war. Bei Gelegenheit würde ich mit Horses darüber sprechen müssen. So sehr mich mein Boss auch in den Wahnsinn trieb, wünschte ich ihm doch nichts Schlechtes.
Nachdem ich fast eine halbe Stunde zwischen Schachteln und Maschinen umhergeirrt war und den Verantwortlichen immer noch nicht gefunden hatte, hatte ich keine Lust mehr. Eigentlich, so sagte ich mir, hatte ich meinen Auftrag ja bereits erfüllt. Wenn ich die Lügenkresse also einfach einem von Luigis Mitarbeiten übergeben würde, konnte ich mich guten Gewissens auf den Heimweg machen. Aus diesem Grund wandte ich mich an eine ältere, ziemlich muskulöse Frau, die gegen eine Druckerpresse gelehnt eine Pause machte. Mit gesenktem Blick schlürfte sie Tee aus einer filigranen Tasse, während sie das Geschehen in der Halle beobachtete.
»Entschuldigen Sie …«, sprach ich sie an.
»Vae mihi …«, seufzte sie genervt. »Quid velitis? Nonne mihi plurimum laborandum esse videre potestis?«
Ich blinzelte verwirrt. Was auch immer das für eine Sprache war, ich hatte kein Wort verstanden. »Ich suche Luigi. Wegen der Lügenkresse.«
Die Frau musterte mich verständnislos.
»Lass mich das machen, Alter«, sagte Mülltoni. Mit einem verschwörerischen Lächeln wandte er sich an die Frau. »Ludovico lepidum mentitum ad sorbitionem fervendam portamus. Fortasse dicere possis, quo nobis eundum sit, virgo pulcherrima?«
Zu meiner Überraschung erwiderte die Frau das Lächeln. »Certe. Praefectum ibi invenietis«, sagte sie. »Nisi iam diu fame mortuus est …« Sie deutete in eine Richtung. Dann hauchte sie Mülltoni einen Kuss zu, bevor sie sich wieder ihrem Tee widmete.
»Randalf, mein Freund, wir müssen da lang«, bemerkte Mülltoni mit einem breiten Grinsen. Munter vor sich hin summend schlüpfte er zwischen zwei Säulen aus kunstvoll übereinandergestapelten Schachteln hindurch. Verwirrt folgte ich ihm.
Vorbei an Bergen von weißen, unbedruckten Spielkarten und bedruckten Karten, die gerade weiß angestrichen wurden, gelangten wir zu einer Tür, die aus der Halle hinaus in einen Nebenraum führte. Ein Mann in einem schwarzen Anzug stand davor Wache. Wie die beiden am Eingang trug er eine Maschinenpistole. Auch sonst sah er diesen zum Verwechseln ähnlich.
Schon aus der Ferne musterte er mich misstrauisch. So zückte ich meine Duliöhkarten in Erwartung, mir ein weiteres Mal den Weg freispielen zu müssen. Der Wachmann schüttelte den Kopf. »Nur die Ruhe«, sagte er beschwichtigend. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Offenbar hatte er Angst vor mir. »Ich werde dich nicht aufhalten. Luigi erwartet dich bereits.« Damit trat er zur Seite.
Verwundert steckte ich meine Karten wieder weg. Nicht, dass ich es auf eine Auseinandersetzung angelegt hätte. Trotzdem war ich fast ein bisschen enttäuscht. An dem ängstlichen Wachmann vorbei gelangte ich in einen kleine Küche. Gegenüber der Tür stand ein massiver Kühlschrank. Rechts davon türmten sich in einem Spülbecken Berge von schmutzigem Geschirr. Auf dem Gasherd daneben stand ein großer Topf mit kochendem Wasser. Auf dem kleinen Tisch davor warteten die Zutaten einer Suppe darauf, ihrer Bestimmung zugeführt zu werden.
Auf einer zerschlissenen roten Couch auf der anderen Seite des Kühlschrankes saß ein überaus korpulenter Mann. Er trug einen enganliegenden grauen Jogginganzug und darüber eine weiße, mit verschiedenen Farben befleckte Schürze. Sein runder Kopf war fast kahl, seine Oberlippe von einem eindrucksvollen Schnurrbart umrahmt. Sein traurigen, braunen Augen huschten über die Zeilen eines Buches, das in seiner wulstigen Hand lag.
Als er Mülltoni und mich bemerkte, stand der Mann auf. Er legte zwei Duliöhkarten – Wahnwürziger Windwurzelwendewichtelwirt und Nahnichtiger Neunachtnierennestnarr – zwischen die Seiten und klappte das Buch zu. »Ach, ja, F. W. van der Bohnes ›Die Welt ist ein Kratzbaum‹ ist und bleibt ein Klassiker der ailurosophisch-avantgardistischen Literatur. Auch beim fünfzehnten Mal rührt es mich noch zu immer zu Tränen …« Er seufzte theatralisch. Dann legte er das Buch weg und baute sich vor mir auf. Er war nicht nur zwei Köpfe größer, sondern auch mindestens dreimal so breit wie ich. Dennoch wirkte er auf keine Weise furchteinflößend.
»Randalf der Raue!« Er streckte die Arme aus, umarmte mich und küsste mich auf beide Wangen. »Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr kommen!«
Unbeholfen wich ich ein paar Schritte zurück. »Dann sind Sie wohl Luigi der Lappen«, erwiderte ich.
»Der bin ich«, sagte der Mann lächelnd. »Aber du kannst mich gerne Luigi der Lappen nennen.« Sein Lächeln wurde breiter. »Hast du, warum ich dich gebeten habe?«
Ich nickte. Vorsichtig zog ich die Schale mit der Kresse unter meinem Mantel hervor. Glücklicherweise hatte sie keinerlei Schaden genommen. »Ich hoffe, dieses Zeug war die ganze Mühe wert und hält, was es verspricht …« Damit hielt ich ihm die Schale entgegen.
»Das tut es selten, sonst würde es seinem Ruf ja nicht gerecht werden«, murmelte Luigi der Lappen. Etwas funkelte in seinen Augen, als er die Schale in die Hand nahm. Fast zwei Minuten lang musterte er die Pflanze aufmerksam.
»Ah ja, verstehe …«, sagte er schließlich. Dann warf er die Schale mitsamt der Kresse in den Mülleimer, der unter der Spüle stand. »Leider ist das keine echte Lügenkresse. Da hat sich wohl jemand einen Spaß mit dir erlaubt …«
»Was …?«, keuchte ich. Entgeistert huschte mein Blick zwischen Luigi und dem Mülleimer hin und her.
»Ja, da kann man leider nichts machen«, erwiderte Luigi. Mit einem traurigen Seufzen wandte er mir den Rücken zu. »Ich werde meine Suppe wohl ohne Lügenkresse machen müssen …« Er schniefte vernehmlich. »Wenn meine Mutter das wüsste, sie würde …« Dann brach er in Tränen aus.

Als ich das Lagerhaus eine halbe Stunde später verließ, hatte meine Stimmung einen neuen Tiefpunkt erreicht. Luigi hatte es sich nicht nehmen lassen, eine mitreißende Trauerrede auf seine Suppe zu halten. Er hatte mir nicht die Schuld an seinem Elend gegeben. Trotzdem fühlte ich mich miserabel. Ich hatte auf ganzer Linie versagt.
Mülltoni versuchte mich mit der Aussicht auf unser gemeinsames Musikprojekt aufzuheitern, bewirkte damit jedoch das Gegenteil. Ich hätte ihn angeschrien, er solle mich endlich damit in Ruhe lassen. Doch dazu fehlte mir die Kraft. Ich wollte einfach nur mehr nach Hause und mich bei einem Glas Essiggurken und einer Dokumentation über das Liebesleben von Regenwürmern auf dem Sofa in den Schlaf weinen.
An ein paar Duliöhsüchtigen vorbei ging ich die Straße entlang. Dabei kam ich an dem Stand vorbei, der mir schon vorher aufgefallen war. Lügenkresse gab es dort zu kaufen. Zumindest behauptete der Händler das, der mir auch dieses Mal ungefragt seine Ware unter die Nase hielt. Ich schnaubte abfällig. Diese ganze Stadt war wie der lebendig gewordene Traum eines Geisteskranken. Wie absurd wäre es da gewesen, wenn ausgerechnet dieser heruntergekommene, alles andere als vertrauenserweckende Kerl die Wahrheit sprach?
Mein schlechtes Gewissen ließ mir keine Ruhe. »Also gut«, knurrte ich den Mann an. »Ich nehme eine Schale.«

Schon war ich um lächerliche vierzehn Tenz ärmer und eine Schale Kresse reicher. Vorbei an den Wachmännern, die es nicht wagten, mich ein zweites Mal herauszufordern, kehrte ich in die Lagerhalle zurück. Luigi starrte – immer noch in tiefe Trauer versunken – in den Topf mit kochendem Wasser hinab, als überlebte er, ob er sich daran ertränken könnte. Er blinzelte mich verwirrt an, als ich ihm die Schale mit Kresse entgegenhielt.
»Kann es denn sein?«, schluchzte er. »Ja ist es denn die Wahrheit?« Er schloss mich in eine innige Umarmung. »Wie? Wo?«
»Ihrer Reaktion entnehme ich, dass es diesmal die richtige Kresse ist«, sagte ich, indem ich mich aus seinen Armen wand. »Vielleicht sollten Sie öfter vor die Tür gehen, bevor Sie jemanden durch die halbe Stadt jagen …« Ich bemühte mich, meine finstere Miene zu behalten, doch die Freudentränen in Luigis Augen machten es mir schwer.
Während der Fälscher lachend mit Mülltoni durch die Küche tanzte, ließ ich mich auf die Couch in der Ecke fallen.

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