Auf der anderen Seite des Schreibtisches – Episode VIII

Der Lehrer

Auf der anderen Seite des Schreibtisches öffnete sich ein Tor in eine andere Welt. Ich stieg hindurch und hier bin ich nun – gefangen in einer Stadt, in der der Irrsinn herrscht.

Zum wiederholten Male an diesem viel zu langen Tag war ich auf der Flucht. Nachdem mich zunächst ein ganzes Heer von Duliöhsüchtigen verfolgt hatte und kurz darauf eine schießwütige Polizistin, rannte ich diesmal zur Abwechslung vor meinem Freund Mülltoni davon. Mit fanatisch glühenden Augen hechtete mir dieser hinterher. In seinem rechten Henkel hielt er ein in Alufolie eingewickeltes Sandwich aus »Doms Döner«, das ich zuvor wegzuwerfen versucht hatte.
»Komm schon, iss dein Sandwich, Alter!«, rief der mir schnaufend hinterher. »Der Meister verlangt, dass du es isst! Du wirst dem Meister doch nicht widersprechen, oder?«
»Und ob ich ihm widerspreche!«, schrie ich zurück. Ich schlug einen Haken, um einen Hydranten herum, bog unter dem Vordach eines Schreibwarengeschäftes hindurch in eine Seitengasse zu meiner Linken ab, wo ich über eine Duliöhleiche springen musste, die dort am Fußboden lag und mir ein heiseres »Kaaarten!« hinterherstöhnte.
Langsam hatte ich von diesen dauernden Komplikationen genug. Ich wollte doch nur einem Kartenfälscher ein Schächtelchen Lügenkresse bringen. Kein allzu schwieriges Unterfangen, sollte man meinen. Wäre da nicht eben dieses Gemüse überall ausverkauft gewesen. Hätte mich Mülltoni dann nicht zu allem Überfluss auch noch in eine zwielichtige Dönerbude gezerrt, die ihn offenbar einer Gehirnwäsche unterzogen hatte. Jetzt war Mülltoni irgendeinem Meister untertan, dem er mich ebenfalls unterwerfen wollte. Das konnte ich natürlich nicht zulassen. Schließlich hatte ich bereits einen größenwahnsinnigen Arbeitgeber.
Keuchend folgte ich dem Verlauf der Gasse, während Mülltoni und sein Geschwafel langsam hinter mir leiser wurden. Sooft ich konnte, bog ich nach links oder nach rechts in eine andere Gasse ab, um meinen Verfolger zu verwirren. Schließlich hatte ihn dann abgehängt. Vor der mit anzüglichen Plakaten bedeckten Hintertür irgendeines zwielichtigen Etablissements blieb ich stehen. Ich lehnte mich gegen eine Mauer, um zu Atem zu kommen und zu überlegen, wie es jetzt weitergehen sollte.
Meine Gedanken drehten sich vor allem um Mülltoni. Eigentlich hatte ich keine Zeit, mich mit ihm zu beschäftigen. Aber ich konnte ihn auch nicht einfach in seinem derzeitigen Zustand sich selbst überlassen. Dass er mehr oder weniger aus eigener Schuld zu einem willenlosen Handlanger irgendeiner Sekte geworden war, änderte auch nichts daran, dass er eine Gefahr für sich selbst und die Welt war. Er mochte nur eine sprechende Mülltonne mit einem Hang zum Alkohol sein, doch hatte er es nicht verdient, auf diese Weise benutzt zu werden.
Darüber hinaus war er mein Freund. Ich konnte ihn nicht im Stich lassen. Er hätte mich auch nicht aufgegeben, wären unsere Rollen vertauscht gewesen, redete ich mir ein.
»Raaaaaandalf!«, hörte ich da seine Stimme ganz in der Nähe rufen. »Raaaaaandalf! Wo bist du? Warum versteckst du dich vor mir? Du musst doch kurz vor dem Verhungern sein. Ich habe etwas für dich…«
Fieberhaft sah ich mich nach etwas um, das mir helfen hätte können. Wie üblich war da überall nichts außer Müll. Die halbe Stadt schien daraus zu bestehen. Wie ich diesen Ort doch hasste!
Mit langsamen, drohenden Schritten trat Mülltoni aus einer Gasse hervor und blickte mich mit glühenden Augen an. »Da bist du ja«, sagte er, indem er zufrieden das Sandwich in seinem rechten Henkel schwenkte. »Was sollte das denn alles? Der Meister will doch nur dein Bestes!«
»Mülltoni, hör mir zu!«, sprach ich ihn an, indem ich einen vorsichtigen Schritt auf ihn zu tat. Da ich sonst nichts hatte, konnte ich ihn vielleicht mit Worten von der Gehirnwäsche befreien. »Kämpf dagegen an! Das bist nicht du! Du bist kein dummer Mitläufer! Du bist ein Star-DJ, der in den größten Clubs der Welt auflegt!«
Mülltoni blieb stehen. Er wirkte ein wenig verunsichert. »Was redest du da, Alter? Natürlich bin ich ein dummer Mitläufer! Der Meister hat mir die Augen geöffnet. Ich lebe nur, um ihm zu dienen. Wir allen leben nur, um ihm zu dienen. Nur so finden wir Erlösung!«
»So ein Schwachsinn!«, fauchte ich. »So ein Geschwafel will ich vom besten Flötisten der Trash-Metal-Szene nicht hören! Was wird denn dann aus unserem Musikprojekt, wenn du nur mehr diesem Meister hinterherläufst?«
»Unserem… Musikprojekt?«, fragte Mülltoni. Er wirkte gerührt. »Wie konnte ich das nur vergessen…« Er ließ das Sandwich sinken. »Du hast Recht, Randalf… Ich bin Musiker, kein dummer Mitläufer.« Er schlug beschämt die Augen nieder.
Ich konnte mir ein erleichtertes Seufzen nicht verkneifen. Eigentlich hatte ich überhaupt keine Lust auf dieses Musikprojekt, mit dem mir in den Ohren lag, seit wir uns getroffen hatten. Es war jedoch ein geringer Preis, wenn ich meinen Freund dadurch aus der Gewalt des Meisters befreien konnte.
»Ich bin Musiker… Star-DJ…«, murmelte Mülltoni leise. »Und als solcher werde ich dem Meister noch mehr Anhänger einbringen… Ich werde für ihn die ganze Stadt unterwerfen, nein, die ganze Welt!«
Zu spät bemerkte ich meinen Irrtum. Mit erhobenem Sandwich sprang Mülltoni mir entgegen und rammte mich zu Boden. Wir rangen eine Weile miteinander, wobei ich vergeblich versuchte, gleichzeitig das Sandwich von mir fernzuhalten und wieder auf die Beine zu kommen. Schließlich gewann er jedoch die Oberhand. Indem er sich mit seinem ganzen Gewicht auf mich legte, hinderte er mich am Aufstehen. Meine Hände fixierte er mit seinem linken Henkel. Sein Griff war hart wie Eisen. Sein Blick glühte vor Eifer. Ein hässliches Grinsen verzerrte sein breites Gesicht, als er mit seinem freien Henkel triumphierend das Sandwich in die Höhe hielt.
»Bald hat all dein Leid ein Ende«, versprach er, während ich mich strampelnd zu befreien versuchte. Scheinbar in Zeitlupe löste er die Alufolie von dem Sandwich und ließ es auf meinen Mund zu gleiten.
Schon sah ich mein Leben an mir vorbeiziehen, als Mülltoni plötzlich aufschrie und das Sandwich fallen ließ. Wimmernd rollte er von mir herunter, während er sich den rechten Henkel hielt. Dort steckten zwei Duliöhkarten – Jähjubelndes Jadejägerjackenjahrjoch und Rotriechender Radrattenrundrätselrächer.
Verwirrt sah ich mich um, woher die Karten so plötzlich gekommen waren. Dort, auf dem Vordach der Bar stand ein großer, in einen langen schwarzen Mantel gehüllter Mann. Unter dem Mantel trug er ein zerknittertes schwarzes Hemd, dessen erste zwei Knöpfe offenstanden. Seine Hände steckten in schwarzen Lederhandschuhen, seine Augen waren hinter einer schmalen Sonnenbrille verborgen. Sein blondes Haar war zurückgegelt. Im Gesamten sah er aus wie ein klischeehafter Auftragsmörder.
»Randalf der Raue«, sagte er mit leiser Stimme. »Hier treibst du dich also herum. Ich habe nach dir gesucht…«
Mit einem eleganten Sprung ließ er sich vom Vordach gleiten. Mit dem Rücken zu mir landete auf beiden Beinen, wobei sich sein langer Mantel hinter ihm aufbauschte.
»Haben Sie diese Karten geworfen?«, fragte ich, während ich mich aufrappelte. Neben mir krümmte sich Mülltoni jammernd am Boden.
»In der Tat«, erwiderte der Mann, indem er sich zu mir umdrehte. Hinter einer Mülltonne zog er einen schweren schwarzen Aktenkoffer hervor. »Ich habe sie vorhin auf dem Schulhof konfisziert… Diese Gören haben nichts anderes als Spielen im Sinn, wo sie doch eigentlich lernen sollten…« Er blickte mit ausdrucksloser Miene auf Mülltoni hinab. »Was war da eigentlich los?«
»Nur ein kleiner Streit zwischen Freunden…«, entgegnete ich misstrauisch. Der Kerl gefiel mir nicht. Er hatte etwas an sich, das mir die Haare zu Berge stehen ließ. »Dürfte ich wohl erfahren, wer Sie sind und warum Sie mir geholfen haben?«
Der Mann musterte mich mit einem abschätzenden, kalten Blick, beinahe als hätte ich etwas Falsches gesagt. Verstohlen sah ich mich nach einer Waffe um. Neben dem wimmernden Mülltoni lag eine leere Küchenrolle. Ich wog ab, ob ich sie würde erreichen können, ehe mich der Mann mit tödlichen Spielkarten bewerfen konnte.
»Namen tun nichts zu Sache«, erwiderte dieser unheilverkündend. »Aber du kannst mich den Lehrer nennen. Das tun alle, die eine Begegnung mit mir überlebt haben.« Er rückte mit einer lässigen Bewegung seine Brille zurecht. »Zu dem Grund, weshalb ich hier bin: Big Horse hat mich geschickt. Er schien der Ansicht zu sein, du könntest ein wenig Hilfe gebrauchen.«
Die Anspannung fiel von mir ab. Mein Boss hatte mir also Unterstützung geschickt. Ich konnte nicht bestreiten, dass ich dafür sehr dankbar war. »Sie kommen tatsächlich wie gerufen«, sagte ich.

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