Auf der anderen Seite des Schreibtisches – Episode XII

Fernsehstunde

Auf der anderen Seite des Schreibtisches öffnete sich ein Tor in eine andere Welt. Ich stieg hindurch und hier bin ich nun – gefangen in einer Stadt, in der der Irrsinn herrscht.

Meine Knie zitterten ein wenig von der Aufregung des Spieles, während ich den Preis für meinen Sieg entgegennahm. Fast als fürchtete ich, sie wieder zu verlieren, drückte ich die Videokassette mit der Aufschrift »Gehirnwäsche für Anfänger« fest an mich. Obwohl sich mein Gegner offenbar an die getroffene Vereinbarung hielt und meine Seele nicht länger verschlingen wollte, vertraute ich Xqyzqyzqyz nicht. Als hätte irgendjemand bei Verstand einem Ungeheuer mit drei vor Zähnen starrenden Mäulern und Dutzenden Augen vertrauen können.
Hastig sammelte ich meine Duliöhkarten vom Boden auf, der uns als Spielfeld gedient hatte. Dabei war ich mir der Blicke der unzähligen rotglühenden Augen nur allzu bewusst.
»Du hast gut gespielt«, gab Xqyzqyzqyz dreistimmig zu. »Seit vierhundert Jahren war dies meine erste Niederlage. Aus diesem Grund möchte ich, dass du meine besten Karten an dich nimmst.« Mit einem der Tentakel, die es anstatt von Füßen hatte, hielt es mir zwei Duliöhkarten entgegen. »Ymberiynsulaeyteriyliciymperatrix ydoneoyrata« stand auf der einen Karte, »Xemixalicixecurisxervixenex xacroxanus« auf der anderen. Einmal mehr wurde ich das Gefühl nicht los, dass mein seltsamer Gegenspieler die Karten selbst entworfen hatte.
»Außerdem«, fuhr das Ungeheuer fort. »Sollst du das hier haben.« Er drückte mir eine kleine, äußerst hässliche Stoffpuppe in die Hand. Diese hatte ein kreideweißes Gesicht, das von pechschwarzem Haar aus ausgefransten Wollfäden umgeben war. Blutrote Knöpfe stellen die Augen dar, während der zu einem unheimlichen Grinsen verzogene Mund nur aus einer grobe Naht bestand. Eine weitere Naht zog sich quer über ihren Körper.
»Das… ähm… ist wirklich sehr nett«, sagte ich. Schon allein der Anblick der Puppe jagte mir kalte Schauer über den Rücken. »Aber das kann ich nicht annehmen. Das ist mehr, als wir vereinbart hatten…«
»Nimm sie!«, beharrte das Ungeheuer. »Diese Puppe ist ein Glücksbringer. Und bevor du fragst: Sie ist ganz sicher nicht verflucht!« Seine Augen hatten einen ziemlich hungrigen Ausdruck angenommen. Es war wohl höchste Zeit, dass ich mich zurückzog, ehe Xqyzqyzqyz sich die Sache mit der Seele und dem Spiel noch einmal überlegte.
Widerwillig behielt ich die Puppe. Ich verabschiedete mich von dem Ungeheuer und machte mich auf den Rückweg durch den Dachboden. Dabei gelang es mir nur mit Mühe, nicht ständig Blicke hinter mich zu werfen, um sicherzugehen, dass Xqyzqyzqyz mir nicht folgte. Als das Ungeheuer hinter einem Stapel mottenzerfressener Landkarten außer Sicht geriet, begann ich zu rennen. Ich hatte es so eilig, dass ich die steile Treppe mehr nach hinunterrutschte als stieg.
Erst als ich die Tür zum Dachboden hinter mir versperrt hatte, gestattete ich es mir, einen Augenblick lang innezuhalten und durchzuatmen. Sehnsüchtig wanderte mein Blick zur Cafeteria neben der Tür. Nach all der Aufregung war mein Hunger zurückgekehrt. Dieser verging mir sogleich wieder, als ich sah, wie die knochendürre Verkäuferin eine stark qualmende Zigarre in einem Sandwich ausdrückte, das daraufhin ein leises Fiepen von sich gab.
Also machte ich mich auf den Weg zum Büro des Lehrers. Als ich an einem überquellenden Abfalleimer vorbeikam, nutzte ich die Gelegenheit und entledigte mich der unheimlichen Puppe, die ich immer noch in der Hand hielt. Die Duliöhkarten, die Xqyzqyzqyz mir gegeben hatte, behielt ich. Wer konnte schon sagen, ob sie mir nicht noch von Nutzen sein würden?
Als ich ein Stockwerk tiefer die Tür zu dem Büro aufstieß, starrte mir Mülltoni mit fiebrigem Blick entgegen. Mein Freund war immer noch mit Kabelbindern an einen Sessel gefesselt und mit meiner Haube geknebelt. Der Lehrer, dem das Büro gehörte, stand mit dem Rücken zu mir vor dem Fenster. »Du kommst spät«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Was hat dich aufgehalten?«
»Ach, nur das übliche«, brummte ich missmutig. »Ungeheuer und Spielkarten…«
»Hast du die Kassette?«, fragte der Lehrer, ohne auf meine Antwort einzugehen.
Wortlos ließ ich besagte Kassette auf den unordentlichen Schreibtisch fallen. Jetzt erst drehte der Lehrer sich zu mir um. »Ausgezeichnet!«, sagte er. »Dann sollten wir keine Zeit mehr verlieren.«
Er nahm die Kassette an sich und betrachtete sie eingehend, ehe er sie aus ihrer Hülle nahm. Dann schaltete er den altmodischen Röhrenfernseher ein, der auf einem Fahrgestell in der Mitte des kleinen Raumes stand. Unter dem Apparat war ein Videorekorder angebracht, der wohl bereits bessere Zeiten gesehen hatte. Als der Lehrer auch diesen in Betrieb nahm, spuckte ihm der Rekorder eine Kassette entgegen.
»Na, sowas«, bemerkte der Lehrer verwundert. »Offenbar hättest du dir deinen Ausflug in den Dachboden sparen können.« Er warf mir die Kassette aus dem Rekorder zu. Mit ziemlichem Unmut bemerkte ich, dass diese mit »Gehirnwäsche für Anfänger« beschriftet war. Also hatte ich meine Seele umsonst aufs Spiel gesetzt. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.
Mehr aus Mitleid, denn aus Notwendigkeit schob der Lehrer dennoch die von mir besorgte Kassette in den Rekorder. Das Gerät gab ein ratterndes Geräusch von sich und ich meinte ein wenig Rauch davon aufsteigen zu sehen. Zugleich erschien auf dem Fernseher darüber ein flimmerndes Bild. »Gehirnwäsche für Anfänger« stand da in bunten Buchstaben in einer Schriftart, die in den Augen schmerzte.
Ehe er den Film laufen ließ, drehte der Lehrer den Fernseher so, dass Mülltoni den Bildschirm gut sehen konnte. Mit einem dicken, schwarzen Klebeband sorgte er dafür, dass mein Freund seine Augen nicht mehr schließen und auch nicht blinzeln konnte. Zu guter Letzt setze er diesem wuchtige Kopfhörer auf. Ich hatte keine Ahnung, woher der Lehrer wissen wollte, wo bei einer sprechenden Mülltonne die Ohren lagen, doch schien er sich nicht mit solchen Nebensächlichkeiten aufzuhalten.
Mülltoni versuchte währenddessen sich aus seiner misslichen Lage zu befreien. Er rief wiederholt irgendetwas, das ich durch den Knebel nicht verstand. Es war mir unangenehm, ihn so zu sehen. Nur das Wissen, dass all dies notwendig war, um ihn aus den Fängen der Domus-Sekte zu befreien, hielt mich davon ab, ihm zu Hilfe zu eilen.
»Sind Sie sich sicher, dass das klappen wird?«, fragte ich den Lehrer.
Dieser schenkte mir ein beunruhigendes Lächeln. »Im Laufe der Jahre hat sich diese Methode bewehrt, wenn es darum ging, Unruhestifter und Aufrührer wieder zurück auf den rechten Weg zu bringen. Ich selbst habe ihn bereits mehreren Klassen vorgeführt. Das Ergebnis spricht für sich.«
Der Gedanke daran, was in dieser Schule offenbar als Unterricht durchging, ließ mich schaudern. Es war nur ein Grund mehr, diese Sache so schnell wie möglich abzuschließen und von hier zu verschwinden. Auf mein Nicken hin drückte der Lehrer auf »Abspielen«. Die grelle Schrift auf dem Bildschirm verblasste. An ihre Stelle trat eine rasche Abfolge scheinbar unzusammenhängender Bilder. Mülltonis Gestammel wurde ängstlicher, seine Augen rollten.
»Wie lange wird es dauern?«, fragte ich, während mein Blick zwischen dem Fernseher und meinem sich windenden Freund hin und herwanderte.
»Eine knappe Stunde«, antwortete der Lehrer. Vom Gang her ertönte das schrille Läuten einer Pausenglocke. »Nun, ich muss in den Unterricht. Du solltest derweil hier die Stellung halten. Um alles weitere werde ich mich in der nächsten Pause kümmern.«
Ehe ich zu einer Erwiderung ansetzen konnte, war er mitsamt seinem Aktenkoffer durch die Tür verschwunden. Seufzend setzte ich mich also auf die Kante des Schreibtisches, um das Schauspiel zu beobachten, das sich mir bot. Eine Weile betrachtete ich mit wachsender Verwirrung die Bilder, die über den Fernseher flimmerten. Nichts davon ergab irgendeinen Sinn. Manchmal waren Tiere zu sehen, dann wieder nur Farben oder abstrakte Gebilde. Hier und da blitzten Menschen oder Saurier auf. Zwischen alledem glaubte ich sogar das Gesicht meines Arbeitsgebers gesehen zu haben. Nun, es hätte mich wohl kaum wundern dürfen, dass Horses an einem Film mitwirkte, der zur Gehirnwäsche diente.
Nach einiger Zeit hörte Mülltoni auf, gegen seine Fesseln anzukämpfen. Stattdessen saß er nun reglos da, während er mit leerem Blick den Fernseher anstarrte. Schon bald fragte ich mich, ob er überhaupt noch bei Bewusstsein war. Leider hatte ich keine Möglichkeit, dies festzustellen, ohne möglicherweise den Erfolg der Behandlung zu gefährden.
Mit jeder Minute wuchs meine Unruhe. Um mich irgendwie abzulenken, begann ich mit den Händen in den Hosentaschen herumzuwühlen. Dabei stieß ich auf die unheimliche Puppe, die ich zuvor weggeworfen hatte. Oder hatte ich sie behalten? So viel war an diesem Tag geschehen, dass ich mir gar nicht mehr sicher war, was davon wirklich geschehen war. Jedenfalls warf ich die Puppe jetzt in den Papierkorb, der neben dem Schirmständer voller Schwerter stand.
Bald darauf meldete sich mein Magen wieder, um mich daran zu erinnern, dass ich schrecklichen Hunger hatte. Wenn Mülltoni endlich wieder er selbst war, würde ich mich auf die Suche nach einem Supermarkt machen. Ich hoffte inständig, dass ich dort – neben einem Happen für mich – auch die langersehnte Lügenkresse finden würde. Nicht, dass es besonders großen Anlass zur Hoffnung gegeben hätte.
Einstweilen galt meine größte Sorge jedoch immer noch Mülltoni. »Halte durch, mein Freund…«, murmelte ich, während mein Blick zu einer Uhr wanderte, die inmitten von Zeitungsausschnitten an der Wand hing. Seit Beginn der Behandlung war gerade einmal eine halbe Stunde vergangen.

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