Einblicke #3: Ardivia

Als ich vor vielen Jahren das Manuskript des ersten Kapitels von „Das Lied der Dämmerung“ schrieb, erlebte ich eine Überraschung. Schon zuvor waren im Laufe des Schreibens oft Charaktere aufgetaucht, die ich in meinem ursprünglichen Plan nicht vorgesehen hatte. Doch dieser war etwas anderes, brachte er doch den vorhergesehenen Verlauf der Handlung gründlich durcheinander.

Die Rede ist von Ardivia, jener Kopfgeldjägerin aus Guilar, die Naron unvermittelt in den Wäldern trifft, wo sie sorglos in einem Weiher badet. Wie schon zu dem Zeitpunkt, als ich diese Begebenheit zum ersten Mal zu Papier brachte, weiß ich bis heute nicht, woher Ardivia eigentlich kam. Plötzlich war sie da und so musste ich, wie Naron, mit ihr zurechtkommen. So schickte ich die beiden also gemeinsam auf die Reise.

Dazu sei gesagt, dass Naron in den früheren Fassungen der Geschichte weder von den Toten zurückgekehrt war, noch sein Gedächtnis verloren hatte. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die beiden nach einigen Tagen in einem Gasthaus irgendwo in Erbarior zueinanderfanden. Dort verbrachten sie eine stürmische Nacht miteinander, nachdem Ardivia sich Naron geöffnet und ihm von ihrer Vergangenheit erzählt hatte. Was am Morgen danach geschah, unterscheidet sich in den früheren Fassungen jedoch sehr stark von dem, was Ihr im veröffentlichten Werk nachlesen könnt.

Zuerst war es nämlich Ardivia, die durch Narons Kuss von einem Zauberbann erlöst wurde. Der Geist einer seit Jahren toten Frau war sie, die auf der Suche nach Erlösung in der Wildnis umgegangen war. Diese Erlösung hatte zur Folge, dass Naron am nächsten Morgen allein in dem Gasthaus aufwachte. Von Ardivia, die mit seiner Hilfe den Weg ins Reich der Toten gefunden hatte, blieben nur ein paar weiße Blumen.

Damit hatte ich Ardivias Geschichte zu Ende erzählt und der Weg war frei für das, was ich eigentlich hatte schreiben wollen. Doch war ich mit dieser Lösung nicht lang zufrieden. So schrieb ich die ersten Kapitel von „Das Lied der Dämmerung“ mehrmals um. Schließlich ließ ich Naron sterben und von den Toten zurückkehren – zunächst noch im Vollbesitz seiner Erinnerungen und mit einem unausgesprochenen Auftrag des Totengottes Nechu, eine gequälte Seele zu erlösen. Dabei ging es freilich um Ardivia, die immer noch ein Geisterwesen war. Der Ausgang war derselbe, doch war Ardivia dadurch mit Narons Schicksal verwoben.

Auch damit gab ich mich jedoch keineswegs zufrieden. Zu weit hergeholt schien mir diese Geschichte, selbst im Hinblick auf all die anderen Geschehnisse. Zwischenzeitlich spielte ich dann sogar mit dem Gedanken, Ardivia zu einer Art untoter Attentäterin zu machen, die von Horonchor geschickt wurde, um Naron zu töten – eine Wendung der Ereignisse, die zwar spannend, jedoch kaum sinnvoll gewesen wäre.

Schlussendlich ließ ich die Kopfgeldjägerin aus den Wäldern zu einer gewöhnlichen, sterblichen Frau werden, die scheinbar nur zufällig in die Handlung verwickelt wurde. Umso größer war zugleich ihre Rolle, war es doch nunmehr sie, die Naron von einem Bann befreite und zeitweilig zu seiner Geliebten wurde.

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