Auf der anderen Seite des Schreibtisches – Episode XI

Ein ungeheuerliches Spiel

Auf der anderen Seite des Schreibtisches öffnete sich ein Tor in eine andere Welt. Ich stieg hindurch und hier bin ich nun – gefangen in einer Stadt, in der der Irrsinn herrscht.

Bei allem, was mir an diesem Tag bereits widerfahren war, hätte mich eigentlich nichts mehr überraschen dürfen. Was mir nun gegenüberstand, tat es dennoch, denn ein Geschöpf wie dieses hatte ich noch nie zuvor gesehen. Nicht, dass ich besonders erpicht darauf gewesen wäre, die zahlreichen merkwürdigen Lebensformen kennenzulernen, die beispielsweise das verseuchte Ödland nordwestlich der Stadt bevölkerten.
Eine Art Drache mochte das sein, was sich nun inmitten des Gerümpels am Dachboden der heruntergekommenen Schule vor mir erhob. Es war fast doppelt so groß wie ich, schien durch die Schwingen, die an seinen Schultern entsprangen, jedoch den ganzen Raum bis zum Dachstuhl auszufüllen. Anstelle von Beinen hatte es zwei lange Tentakel, die Arme endeten in zwei mit unzähligen Zähnen, Stacheln und Hörnern bewehrten Köpfen. Der eigentliche Kopf, der dem Hals entsprang, war langgezogen wie der eines Krokodils oder eines missgestalteten Sauriers. Auch er starrte nur so vor spitzen Zähnen und gebogenen Hörnern. Sogar die lange, grüne Zunge war damit versehen. Dazu kamen Dutzende, wenn nicht Hunderte kleiner rotglühender Augen, die über alle drei Köpfe verstreut waren.
Ich stieß einen spitzen Schrei aus, ehe ich mit der leeren Weinflasche, die ich mir als Waffe erwählt hatte, nach dem Ungeheuer schlug. Die Flasche zersplitterte, als sie auf den mit harten Schuppen bedeckten linken Kopf des Wesens traf. Das Geschöpf gab ein mehrstimmiges, knurrendes Gurgeln von sich, beinahe als würde es lachen. Als ich versuchte, es mit der zersplitterten Flasche zu erwischen, fing es meinen Hieb mit einem seiner Tentakel ab und entriss mir meine Waffe.
»Du…«, gurgelte es.
Meiner Waffe beraubt wich ich zurück, bis ich den Schrank mit den Videokassetten in meinem Rücken spürte. Mein Blick fiel auf das Skelett des unglücklichen Lehrers, der auf diesem Dachboden ein unrühmliches Ende gefunden hatte. Würde es mir nun ebenso ergehen? Wie lange würde es wohl dauern, ehe jemand an diesem Ort meine Überreste finden würde? Und was würde wohl aus jenen werden, die sich auf mich verlassen hatten?
»Du…«, knurrte das Wesen dreistimmig. »Du… Du wirst mit mir spielen.«
Überrascht zuckte ich zusammen und hätte dabei fast die Kassette mit dem Lehrfilm »Gehirnwäsche für Anfänger« fallen lassen, wegen der ich mich überhaupt in dieser Lage befand. Ich hatte mit vielem gerechnet, doch nicht damit, dass dieses unheimliche Geschöpf zur menschlichen Sprache fähig war. Allerdings hätte mich das wohl nicht allzu sehr wundern sollen, bei all den seltsamen Gestalten, denen ich in dieser Stadt bereits begegnet war. War nicht zuletzt mein Arbeitgeber Horses das beste Beispiel dafür, dass man hier mit allem rechnen musste? Dass dieses grauenerregende Wesen zur mir sprach, konnte nur von Vorteil sein, zeigte es doch, dass es wohl nicht nur ein willenloses, vor Zähnen starrendes Raubtier war.
»Spielen?«, entgegnete ich also, während ich versuchte, beim Anblick meines Gegenübers nicht zusammenzuzucken.
»Ja«, erwiderte das Wesen. »Hier oben ist es furchtbar langweilig und ich bin furchtbar hungrig… Ich sehne mich nach etwas Abwechslung und einer frischen Seele.« Wie aus dem Nichts erschien in seinem rechten Tentakel ein Stapel Spielkarten. Dem Aussehen nach handelte es sich dabei um Duliöhkarten. »Wir werden um einen Einsatz spielen. Gewinne ich, werde ich mich an deiner Seele laben. Gewinnst du, gehört meine Seele dir.«
»Was soll ich denn mit deiner Seele?«, entgegnete ich. Mit jedem Wort fasste ich mehr Mut. »Warum sollte ich mich auf dieses Spiel einlassen?«
Die unzähligen Augen des Wesens starrten mich hungrig an. Gelblicher Geifer tropfte aus dem Maul seines linken Kopfes. Als hätte es sich plötzlich umentschieden, zuckte sein freier Tentakel auf mich zu. Schützend riss ich meine Hände nach oben. Dabei entglitt mir die Filmkassette, die ich hielt. Das Ungeheuer fing sie auf und zog seinen Tentakel zurück.
»Dann werden wir darum spielen«, sagte es mit einer Stimme, während die anderen beiden gehässig lachten. »Du bekommst das hier zurück, wenn du gewinnst.«
»Das ist ungerecht!«, beschwerte ich mich, woraufhin auch die dritte Stimme in das Gelächter miteinstimmte. Ich schnappte nach der Kassette, doch das Ungeheuer entzog sie der Reichweite meiner Arme. Damit hatte ich wohl keine andere Wahl, als mich auf dieses Spiel einzulassen. Ich brauchte diesen Film, um meinen Freund Mülltoni vom Einfluss einer Sekte zu befreien.
»Also gut«, gab ich mich geschlagen. »Dann spielen wir. Gewinne ich, gibst du mir die Kassette zurück, gewinnst du, darfst du meine Seele verschlingen. Aber ich sollte dich warnen. Mit Duliöh kenne ich mich aus!«
Ich griff nach meiner Gürteltasche, in der ich für gewöhnlich meine Spielkarten aufbewahrte, nur um zu bemerken, dass ich sie nicht dabeihatte. Natürlich hatte ich sie nicht dabei. Schließlich war ich an diesem Morgen aufgebrochen, um einem Duliöhsüchtigen gefälschte Karten zu verkaufen. Ich wäre ein Narr gewesen, hätte ich meine eigenen dorthin mitgenommen. Alles, was ich nun bei mir hatte, waren zwei Karten, die Mülltoni mir gegeben hatte. Allerdings waren zwei Karten zu wenig, um ein Spiel zu gewinnen, geschweige denn, über zu beginnen.
Da fiel mein Blick auf das Skelett des Lehrers. Wie der Zufall es so wollte, hielt dieses mit der Hand einen Stapel verstaubter Duliöhkarten umklammert. Unter den wachsamen Augen des Ungeheuers bückte ich mich und schob die Finger des Toten beiseite, um die Karten an mich zu nehmen. Rasch sah ich mir an, was mir das Schicksal beschert hatte. Ich musste mich bemühen, nicht überrascht zu keuchen. Die Karten waren nicht nur echt, sondern gehörten allesamt der längst vergriffenen ersten Auflage an. In Sammlerkreisen wären sie ein Vermögen wert gewesen. Gleichzeitig bedeutete das jedoch leider, dass sie – im Vergleich zu den Karten, die heutzutage gedruckt wurden – kaum spielbar waren.
Dennoch mussten die Karten wohl reichen, denn ich hatte so meine Zweifel, dass das Ungeheuer mich nach Hause gehen lassen würde, um meine eigenen zu holen. So legte ich die beiden, die ich von Mülltoni erhalten hatte, auf den Stapel des verstorbenen Lehrers und begann diesen theatralisch langsam zu mischen. Mein Gegner ließ sich mir gegenüber auf dem staubigen Boden nieder, um ebenfalls seine Karten zu mischen. Dafür verwendete er seinen rechten Tentakel und die Zunge des rechten Maules. Es war ein seltsamer Anblick.
»Nun denn, dann ist es wohl Zeit für ein Duell!«, knurrte das Geschöpf mit seinem mittleren Maul. »Mach dich darauf gefasst von mir, dem allmächtigen Xqyzqyzqyz Rchtchtcht geschlagen zu werden!«
»Ich, Randalf der Raue, nehme deine Herausforderung an!«, entgegnete ich wie es Brauch war. Dann zog ich die ersten fünf Karten von meinem Stapel. Mein Gegenüber tat es mir gleich, zog jedoch zehn Karten. Natürlich war das gegen die Regeln, doch kümmerte sich kaum jemand um die Regeln, wenn es um Duliöh ging.

So begann das Spiel. Mein Gegner machte seinen ersten Zug. Er spielte eine Karte aus, die es ihm erlaubte, eine weitere Karte auszuspielen, die ihn wiederrum eine Karte von seinem Stapel nehmen ließ. So reihte Xqyzqyzqyz minutenlang einen Effekt an den anderen, während sich der Boden vor ihm zunehmend mit Karten füllte. Es waren allesamt Karten, die ich noch nie gesehen hatte. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass mein Gegner sie selbst entworfen hatte, trugen sie doch Namen, die dem seinen ähnelten. Auch die Bilder, die darauf zu sehen waren, sahen ihm erschreckend ähnlich.
Natürlich war es verboten, selbstgemachte Karten zu verwenden, waren diese doch den echten meist in jeder Hinsicht überlegen. Ich dagegen, der ich nicht nur mit echten, sondern mit veralteten Karten spielen musste, hatte jeden nur erdenklichen Nachteil auf meiner Seite. Meine Karten waren übervoll mit unverständlichem Text, der in kunstvoller Art und Weise kreuz und quer angeordnet bisweilen so klein geschrieben war, dass ich ihn selbst bei besserem Licht mit einer Lupe nur schwer hätte lesen können.
Glücklicherweise hatte ich zumindest genügend Zeit die kryptischen Texte zu entziffern, während mein Gegner damit beschäftigt war, sein Spielfeld mit Karten zu füllen, von denen eine mächtiger als die andere war. Als er seinen Zug dann endlich beendete, wusste ich ungefähr, was meine Karten konnten. Wirklich weiter half mir das jedoch nicht. Ich fühlte mich ein wenig, als würde ich – nur mit einem Zahnstocher bewaffnet – gegen eine Armee von Tausenden schwer gepanzerten Sauriern mit Maschinengewehren antreten. Dennoch spielte ich Oberordentliche Ortorgelolmohrenoma aus, die einzige Karte, die ich im Augenblick verwenden konnte.
Xqyzqyzqyz lachte hämisch und fuhr mit seinem Zug fort. Erneut brachte es beinahe zwanzig neue Karten ins Spiel, ehe es die meine hinwegfegte und mich damit nach nur zwei Zügen an den Rand der Niederlage brachte. Für meine Seele sah es gar nicht gut aus, die Wahrscheinlichkeit, die begehrte Filmkassette wiederzugewinnen, schwand dahin.
»Mach deinen letzten jämmerlichen Zug!«, sagte Xqyzqyzqyz. Seine Augen glänzten hungrig, seine Zungen zuckten hervor.
Mit einer schwungvollen Geste, die so gar nicht meinem augenblicklichen Gemütszustand entsprach, zog ich eine Karte von meinem Stapel. Dann huschte ein Grinsen über mein Gesicht. Vielleicht hatte mich mein Glück doch nicht verlassen. Dünndümmlicher Dammdomdorfdurchdenker war eine Karte, die in den meisten Fällen nutzlos war. Nicht allerdings, wenn mehr als dreißig Karten auf der Spielfeldseite des Gegners lagen – was, wenn man die Regeln des Spieles beachtete, eigentlich gar nicht erlaubt war.
Als ich die Karte ausspielte, keuchte Xqyzqyzqyz entsetzt auf. »Unmöglich!«, krächzte es. »Das kann nicht sein!«
»Doch, das kann es!«, erwiderte ich siegessicher. »Das ist dein Ende!«
Das Ungeheuer stieß einen furchtbaren Schrei aus, der den gesamten Dachboden erzittern ließ. Dann sank Xqyzqyzqyz in sich zusammen. »Gut… Du hast gewonnen! Nimm deinen Preis und geh!«

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