Auf der anderen Seite des Schreibtisches – Episode XVI

Sonderangebote bei Gruftmarkt

Auf der anderen Seite des Schreibtisches öffnete sich ein Tor in eine andere Welt. Ich stieg hindurch und hier bin ich nun – gefangen in einer Stadt, in der der Irrsinn herrscht.

Unheilverheißend und düster erhob sich der Gruftmarkt vor mir. Aus der Nähe betrachtet wirkte das klobige, schwarz gestrichene Gebäude ziemlich alt und heruntergekommen dafür, dass es – wie der giftgrüne Schriftzug an der Vorderseite verkündete – erst vor zwei Tagen eröffnet worden war. Beinahe widerwillig wandte ich mich der Tür zu. Wäre dies nicht vielleicht gerade der eine Supermarkt gewesen, in dem es noch Lügenkresse gab, hätte ich wohl einen Rückzieher gemacht.
Einen Augenblick lang genoss ich das Licht der Abendsonne, ehe ich erneut in die Dunkelheit trat. Die automatische Tür öffnete sich vor mir mit einem lauten Quietschen, das klang, als würde jemand mit seinen Fingernägeln über eine Schultafel kratzen. Ein kalter Hauch abgestandener Luft wehte mir entgegen, als die langgezogene Halle betrat. Unzählige, meterhohe Regale, die mit verschiedenen Waren vollgestopft waren, reihten sich im spärlichen Licht flackernder Neonröhren aneinander. In dicken Strähnen hingen Spinnweben von der Decke. Der Boden war mit Staub bedeckt. Aus Lautsprechern, die in der Finsternis verborgen lagen, ertönte ein langsamer Trauermarsch.
»Ich mag dieses Lied«, bemerkte Mülltoni, der hinter mir eingetreten war und genüsslich die muffige Luft einsog. »Es erinnert mich an die guten, alten Zeiten …«
Ich verkniff mir jede Frage, während ich bemüht vorsichtig zwischen die Regale trat. Da ich nicht wusste, wo die Lügenkresse zu finden sein würde, und ich nicht länger als notwendig in diesem finsteren Loch verbringen wollte, sah ich mich sogleich nach einem Verkäufer um. Freilich war außer Mülltoni und mir niemand zu sehen. Vom Luftzug getrieben rollte ein einsamer Steppenläufer vor mir durch den Staub.
In Ermangelung anderer Möglichkeiten machte ich mich also auf den Weg zur Gemüseabteilung, die in der Nähe der Eingangstür lag und daher durch die untergehende Sonne ein wenig erhellt wurde. Kiste an Kiste reihten sich dort Karotten, Kartoffeln, Gurken, Salat, und allerlei anderes Grünzeug aneinander. Das meiste davon wirkte durchaus genießbar, während anderes offensichtlich verdorben war. Nicht, dass es für letzteres in dieser Stadt nicht auch genügend Abnehmer gegeben hätte.
Eilig überflog ich die Kisten. Dabei blieb mein Blick immer wieder an den mit giftgrünen Inschriften versehenen Steinen dahinter hängen, auf denen Werbesprüche wie »Nimm fünfzehn, zahl vierzehn!«, »Preise zum Sterben gut!«, »Nimm zwei, zahl drei!«, »Die besten Angebote ihres Lebens! (Das ist keine Drohung, sondern ein Versprechen!)« oder »Letztes Angebot!« zu lesen waren.
»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«, zischte eine leise Stimme in mein Ohr.
Vor Schreck zuckte ich zusammen und wäre beinahe mit Mülltoni zusammengestoßen, der mit glasigen Augen eine Packung vergammelter Kirschen anstarrte. Wie aus dem Nichts war rechts neben mir eine Verkäuferin aus dem Zwielicht aufgetaucht. Eine zahnlose, alte Frau war sie, ganz in Schwarz gehüllt. Umso deutlicher hob sich ihre kreideweiße Haut von ihrer Arbeitskleidung ab, auf der das Logo von Gruftmarkt zu sehen war.
»Das können Sie tatsächlich, vielen Dank«, keuchte ich, während ich versuchte, mein wild pochendes Herz zu beruhigen. »Ich bin auf der Suche nach Lügenkresse.«
»Lügenkresse?«, krächzte die Verkäuferin mit monotoner Stimme. »Da sind Sie hier falsch. Da müssen Sie in der Gartenabteilung nachfragen.« Sie ließ ihre knochige Hand nach Links schwenken. »Dort den Gang entlang bis zu den Plüschtieren, dann rechts. Kommen Sie nicht vom Weg ab …«
»Vielen Dank, ich …«, setzte ich an, doch da war sie schon wieder verschwunden. Mülltoni blickte mich verwirrt an. Ich zuckte nur hilflos mit den Schultern. Die Leute, die bei Gruftmarkt arbeiteten, waren alle ein wenig seltsam.
Ein neues Ziel vor Augen machten wir uns auf den Weg. Die Plüschtierabteilung war nicht zu übersehen. Hunderte von leeren Glasaugen blickten von den übervollen Regalen zu beiden Seiten des Ganges auf uns herab. Im Dämmerlicht wirkte keines der Spielzeuge auch nur im Entferntesten niedlich. Einige davon sahen gar so aus, als wären sie einst lebendige Tiere gewesen, die man nach ihrem Tod ausgestopft hatte. Als ich bemerkte, dass ich die unheimliche Puppe, die Mülltoni in der Unterführung gefunden hatte, immer noch in der Hand hielt, setzte ich sie unauffällig zwischen zwei furchterregende Plüschhasen. Dort würde sie in bester Gesellschaft sein.
Alsbald hatten wir die Gartenabteilung gefunden. Da diese sehr weitläufig war, schlug Mülltoni vor, dass wir uns aufteilten. Obwohl ich dabei ein ungutes Gefühl hatte, stimmte ich ihm zu. Wir hatten an diesem Tag schon zu viel Zeit verloren. So hielt ich zwischen Rasenmähern, Spitzhacken und Säcken voller Dünger und Blumenerde Ausschau nach Lügenkresse. Es war nicht einfach, im flackernden Zwielicht irgendwelche Einzelheiten auszumachen, doch fand ich nichts, was auch nur ansatzweise nach Kresse ausgesehen hätte.
Dann erblickte ich Mülltoni, der am Rand der Gartenabteilung zwischen monströsen Grillöfen vor einer kleinen Imbissbude stand. Der Duft von gebratenem Fleisch und Gemüse schlug mir entgegen und erinnerte mich daran, wie hungrig ich war. Zwar hatte ich nur mehr wenig Geld, doch hatte ich seit dem Frühstück immer noch nichts gegessen. Es war höchste Zeit für eine Zwischenmahlzeit.
»Alter, voll krass hier«, begrüßte mich Mülltoni. Auch er war offenbar nicht fündig geworden. Trotzdem stand neben ihm ein Einkaufskorb, indem etwa ein Dutzend Gartenscheren lagen. »Fünfzehn zum Preis von vierzehn. Da konnte ich nicht nein sagen«, bemerkte er glücklich.
Ich verzichtete darauf, nachzufragen, wofür er so viele Gartenscheren brauchte, und wandte mich stattdessen der Imbissbude zu. »Was darf es sein?«, krächzte die Verkäuferin, die dort kränklich graue Fleischlaibchen auf einen Rost legte. Die alte Frau sah genauso aus wie die, die mir zuvor den Weg gewiesen hatte. Wahrscheinlich war es sogar dieselbe Verkäuferin. Die Chefetage von Gruftmarkt war sehr zurückhaltend, was das Einstellen von Arbeitskräften betraf. Nicht, dass irgendjemand freiwillig in diesem Laden gearbeitet hätte.
Rasch überflog ich die Speisekarte, ignorierte all die reißerischen Sonderangebote und bestellte eine Portion Pommes frites ohne Schimmel und dazu ein Glas Essiggurken. Beides sah zwar nicht sonderlich schmackhaft aus, erwies sich aber als ganz annehmbar und stillte einstweilen meinen quälenden Hunger. Mülltoni verschlang derweil fünfzehn Grabburger zum Preis von vierzehn.
Bevor ich mich dann wieder daran machte, die Gartenabteilung nach Lügenkresse zu durchforsten, bat ich die Verkäuferin um Hilfe. Diese schnaubte abfällig. »Sie sind heute schon der fünfzehnte, der mich nach dieser verdammten Kresse fragt«, krächzte sie. »Die haben wir hier nicht. Da müssen Sie schon in der Esoterikabteilung nachschauen.«
Seufzend machte ich mich also mit Mülltoni im Schlepptau auf den Weg in die Esoterikabteilung. Diese war kaum zu übersehen, wimmelte es dort doch nur so vor ungewöhnlich bunten Lichtern. Seltsame Gerüche erfüllten die Luft zwischen allerlei Gerätschaften, deren Zweck ich nicht einmal erahnen hätte können. Während ich zwischen Wünschelruten und Schutzamuletten Ausschau nach Kresse hielt, betrachtete Mülltoni mit einem dümmlichen Lächeln aus dem Gesicht einen Traumfänger aus Dosenlaschen, der von der Decke baumelte.
Beinahe schon war ich wieder kurz davor, die Suche aufzugeben, da sah ich eine Verkäuferin inmitten einer Ausstellung von schwarzen Heilsteinen stehen. »Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir sagen …«, begann ich, dann stockte ich. Es war schon wieder dieselbe alte Frau wie zuvor, nur dass sie dieses Mal eine lächerliche Brille trug, die ihre Augen um ein Vielfaches größer erscheinen ließen.
»Sagen Sie nichts«, krächzte sie, während sie mich sorgfältig musterte. »Sie sind auf der Suche nach Lügenkresse.«
»Ja, das bin ich«, erwiderte ich ungeduldig.
»Hier werden Sie nicht fündig werden, gehört der Genuss von Lepidum mentitum doch zu den irdischen Vergnügen, die wir, die wir uns mit den höheren Mächten beschäftigen, mehr als alles andere verabscheuen …«, flüsterte die Verkäuferin leise.
»Gut zu wissen, wo kann ich …«, setzte ich an.
»Nicht so schnell junger Mann«, krächzte die Verkäuferin. »Lassen sie mich Ihnen doch zunächst ein wenig von unseren neuen Sonderangeboten erzählen.«
»Ich bin nicht interessiert an …«, sagte ich, doch ließ sie mich nicht zu Wort kommen. Stattdessen hielt sie mir einen langen Mantel entgegen, der in allen möglichen Farben schillerte und roch, als wäre er in Zuckerwasser eingelegt worden. »Sie sehen aus wie jemand, der einen neuen Mantel braucht. Wir haben momentan dieses Modell hier im Angebot. Jenseits der Wüste ist es momentan der letzte Schrei. Es wehrt böse Gedanken ab und lindert außerdem Rückenbeschwerden.«
»Ich …«, sagte ich.
»Dazu gibt es heute – aber nur, wenn Sie in den nächsten dreiundzwanzig Minuten zuschlagen – diese einmalige Ektoplasmabrille fast gratis dazu«, fuhr die Verkäuferin fort, indem sie mir eine riesige Sonnenbrille mit Leopardenmuster unter die Nase hielt. »Mit ihr können Sie nicht nur die Seelen der Verstorbenen sehen, nein, sie schützt Ihre Augen auch noch vor dem schädlichen Licht des verhassten Gestirnes da oben.« Sie machte eine abwehrende Geste in Richtung der Sonne, die hier, in den Tiefen des Gruftmarktes gar nicht zu sehen war.
»Schon gut, ich nehme sie!«, fauchte ich, indem ich ihr Brille und Mantel abnahm. Beides entsprach zwar nicht unbedingt meinem Stil, doch hatte ich die Ausstattung, die ich an diesem Tag verloren hatte, ohnehin früher oder später ersetzen wollen.
»Eine weise Entscheidung«, krächzte die Verkäuferin kalt. »Dazu bekommen Sie, weil Sie innerhalb von zwei Minuten zugesagt haben, noch diese beiden Karten extra – für einen lächerlich geringen Aufpreis – dazu. Reisende aus einem fernen Land sollen sie in den Ruinen einer untergegangenen Zivilisation gefunden haben …«
Ich verdrehte die Augen, als ich die beiden Duliöhkarten entgegennahm. »Hochheuriger Herzhierhaltehundsheiliger« und »Endelende Erlehrenelternerkerebene« waren nicht einmal besonders seltene Karten. »Danke«, sagte ich. »Können Sie mir jetzt sagen, wo ich die Lügenkresse finde?«
Die Frau setzte zu einer Antwort an, als ich einen Schrei aus der Ferne vernahm. Es war Mülltonis Stimme.

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