Der Schatz der Friedhofsabteilung
Auf der anderen Seite des Schreibtisches öffnete sich ein Tor in eine andere Welt. Ich stieg hindurch und hier bin ich nun – gefangen in einer Stadt, in der der Irrsinn herrscht.
Langsam schritt ich den von Säulen gesäumten Gang entlang in die Finsternis jenseits der flackernden Neonröhren. Die Regale zu beiden Seiten waren – abgesehen von ein paar Spinnweben hier und da – leer und verstaubt. Mehr noch als im Rest des Supermarktes hing ein Hauch von Moder in der Luft. Obwohl der Weg geradeaus führte, wurde ich das Gefühl nicht los, in eine vergessene Gruft tief unter der Erde hinabzusteigen.
Meine Hand verkrampfte sich um die Plastikflasche mit gesegnetem Möhrenwasser, die ich nach der Auseinandersetzung mit Mülltoni wieder an mich genommen hatte. Erwartetet mich am Ende dieses dunklen Ganges tatsächlich die lang ersehnte Lügenkresse oder lief ich vielmehr sehenden Auges in die Höhle eines Ungeheuers hinein? Die Stille und die Abwesenheit anderer Kunden machten mich misstrauisch. Nicht, dass es in diesem Supermarkt irgendetwas gegeben hätte, was mich nicht misstrauisch gemacht hätte. Wie ich Gruftmarkt doch hasste!
Mülltoni schlurfte leise und ziemlich unmelodisch vor sich hin summend hinter mir her. Unbeschwert wie immer schien er keinerlei Gefahr zu fürchten. Nicht zum ersten Mal wünschte ich, ich hätte seine Zuversicht teilen können.
Das Licht der Verkaufshalle war beinahe versiegt, als es vor mir heller wurde. Durch einen dichten Vorhang aus klebrigen Spinnweben hindurch trat ich in eine schwach erleuchtete Kammer hinaus, die man tatsächlich eher in einer Gruft als in einem Supermarkt erwartete hätte. Schwarze Kerzen in vergilbten, goldenen Ständern säumten die schiefen Wände aus nacktem Stein, die sich nach oben hin zu einem schmalen Schacht verjüngten. Der Boden war übersät mit Skeletten aus Plastik – offenbar Reklame aus der Friedhofsabteilung, die jemand hier gelagert hatte.
Zwischen den falschen Knochen erhob sich genau in der Mitte der Kammer ein großes Podest aus schwarzem Marmor, das von einem einzelnen Lichtstrahl aus dem Schacht darüber erhellt wurde. Einer Trophäe oder einem Schatz gleich war dort eine einzelne, wunderschön gefertigte rote Schale ausgestellt. Was sich darin befand, konnte ich aus der Ferne nicht sehen. Auf einer steinernen Tafel, die zu Füßen des Podestes lag, war in goldenen Buchstaben »Lügenkresse« zu lesen.
Ohne es zu wollen, seufzte ich erleichtert. All den Mühen zum Trotz hatte ich es endlich geschafft. Mein Ziel war zum Greifen nahe. Doch schlug meine Erleichterung sofort wieder in Argwohn um. Lügenkresse war in dieser Stadt so begehrt, dass ihretwegen Straßenschlachten ausgebrochen waren. Und nun war ausgerechnet ich derjenige, der zufälligerweise an diesen Ort gelangt war, wo es das begehrte Gemüse noch zu kaufen gab? Das konnte ich nicht glauben.
Meine Plastikflasche fest umklammernd sah ich mich nach allen Seiten um. Die leeren Augen Dutzender Plastikskelette starrten mich an. Darüber hinaus war jedoch niemand zu sehen. So trat ich langsam und vorsichtig auf das Podest zu. Meine Schritte hallten unheimlich laut von den Wänden wider. Schon hatte ich die Mitte der Kammer erreicht und blickte gespannt auf die rote Schale hinab. Aus der Nähe besehen wirkte diese weitaus weniger prächtig, ja beinahe billig. Doch das kümmerte mich nicht, denn sie enthielt tatsächlich Kresse.
Verstohlen griff ich nach der Schale, doch ehe ich sie auch nur berühren konnte, ertönte über mir ein lauter Knall. Erschrocken zuckte ich zusammen und stolperte einige Schritte zurück.
»Finger weg!«, schrie eine schrille Stimme. »Die Lügenkresse ist mein!«
Verwirrt blickte ich nach oben. Aus dem schmalen Lichtschacht über dem Podest seilte sich eine seltsame Gestalt ab. Einer der Riesenkakerlaken mochte er wohl sein, doch wirkte er für einen solchen ziemlich plump und untersetzt. Sein bereites Gesicht wurde fast zur Gänze von seinen weißen Glubschaugen und seinem grinsenden Mund eingenommen. Ein großer Lederhut saß auf seinem runden Kopf. Wie Federn steckten zwei Duliöhkarten im Hutband – »Bleichbuntes Bratbuschbirnenbohnenbier« und »Mürrischmächtiger Mordmarkenmeermützenmarder«. Mit drei Händen hielt der Kakerlak sich an seinem Seil fest, in der vierten ruhte ein etwas altmodischer Revolver, der auf mich gerichtet war.
Missmutig ließ ich meine Flasche fallen, hob die Hände und trat einen weiteren Schritt zurück.
»Hey, Alter, das ist nicht fair!«, rief Mülltoni, der mit zu Fäusten geballten Henkeln neben mich getreten war. »Zisch ab, du schräger Vogel! Wir waren zuerst hier! Wir …«
Ein lauter Knall schnitt ihm das Wort ab, als sich ein Schuss aus dem Revolver löste und eines der herumliegenden Skelette traf. Obwohl der Schuss ihn nicht einmal gestreift hatte, kreischte Mülltoni, als läge er im Sterben. Erst als ich ihm beruhigend meine Hand auf die Schulter gelegt hatte, verstummte er schniefend.
»Der nächste Schuss geht nicht daneben!«, versprach der Kakerlak von oben herab. »Legt es nicht darauf an!«
»Vielleicht können wir zu einer Übereinkunft kommen«, schlug ich vor. »Ich brauche diese Kresse wirklich sehr dringend. Mein Boss – Big Horse – wird jeden Preis dafür zahlen.« Das war gelogen. Horses war zwar unermesslich reich, aber ein elender Knauser. Nicht zuletzt deshalb griff er bei jeder Gelegenheit auf meine Hilfe zurück. Und doch öffnete sein Name in dieser Stadt manchmal Tür und Tor.
Der Kakerlak lachte laut, während er etwas unbeholfen auf dem Podest neben der Kresse landete. »Vergiss es!«, sagte er. »Ich bin jetzt schon seit Monaten auf der Suche nach diesem Schatz … Unzählige Gefahren habe ich überstanden. Unzählige Male bin ich nur knapp dem Tod entronnen. Was auch immer Big Horse mir dafür zahlen würde: K. L. Kaklak zahlt das doppelte!«
Den Namen K. L. Kaklak kannte ich leider nur zu gut. Er gehörte dem Präsident der Riesenkakerlaken in dieser Stadt – dem Präsidenten aller, seinen eigenen Aussagen nach. K. L. Kaklak war beinahe ebenso einflussreich wie mein Boss und sehr viel spendabler. Wäre er nicht ein elendiger Rassist gewesen, der jeden, der kein Kakerlak war, für eine mindere Lebensform hielt, hätte ich ebenfalls für ihn statt für Horses gearbeitet.
So musste ich mich wohl oder übel damit abfinden, dass ich die Lügenkresse an diesen Schatzjäger gehen würde. Immer noch hielt der Kakerlak den Revolver auf Mülltoni und mich gerichtet, während er die Schale mit der Kresse aufhob und sich daran machte, über das Seil zurück nach oben durch den Lichtschacht zu klettern.
Kaum hatte er sein letztes Bein von dem Podest genommen, da wurde die Kammer von einem lauten Rumpeln erschüttert. Ein kalter Hauch wirbelte die staubige Luft auf, dann geschahen mehrere Dinge zugleich. Hinter mir rasselte ein eisernes Gitter herab und versperrte den Gang, durch den ich mit Mülltoni gekommen war. Vor meinen Füßen tat sich plötzlich ein tiefer, mit Pfählen gespickter Graben auf. Zugleich schwangen von oben zwei riesige, an Seilen befestigte Klingen herab, die mich beinahe um einen Kopf kürzer gemacht hätten, hätte ich mich nicht zufällig im richtigen Augenblick geduckt.
Der Kakerlak hatte weniger Glück. Aus einer unsichtbaren Öffnung an der Wand schossen Dutzende kleine Pfeile hervor. Die meisten prallten an seinem Chitinpanzer ab, einige blieben jedoch stecken, schlugen ihm seine Waffe und die Schale mit der Kresse aus der Hand. Vor Schreck verlor er den Halt und stürzte schreiend in die Tiefe, wo er mit verrenkten Gliedern zwischen den Pfählen am Grund des Grabens liegen blieb.
Die Lügenkresse landete wie durch ein Wunder auf dem Podest. Kaum hatte sie ihren angestammten Platz wiedereingenommen, war der Spuk vorbei. Der Pfeilregen ebbte ab, die pendelnden Klingen verschwanden in den Wänden, das Gitter vor der Tür öffnete sich, während sich der Graben über dem wimmernden Kakerlaken schloss. Der verhinderte Schatzjäger warf mir von unten herauf einen letzten, beinahe flehenden Blick zu. Nicht, dass ich irgendetwas für ihn hätte tun können.
»Was zum …?«, stieß ich zutiefst verstört aus, als der Staub sich gelegt hatte.
»Der Schatz der Friedhofsabteilung ist gut bewacht«, bemerkte Mülltoni leichthin. Er war wieder die Ruhe selbst. »Nur die Würdigen werden die Lügenkresse in Händen halten.«
»Die Würdigen?«, fauchte ich ihn an. »Das ist ein Supermarkt, nicht die Schatzkammer irgendeines Königs … Wir sind nicht hier, um ein altes Artefakt zu stehlen, sondern um Kresse zu kaufen. Wer denkt sich sowas aus?«
Mülltoni zuckte mit den Henkeln. »Weiß ich nicht, Alter«, gab er zu. »Trotzdem werden wir ein Opfer bringen müssen, wenn wir mit der Kresse hier rauswollen.«
»Ein Opfer bringen?«, knurrte ich. »Haben wir an diesem Tag nicht schon genug Opfer gebracht?«
»Komm mal wieder runter, Alter, und chill ein bisschen«, schlug Mülltoni vor. »Lass mich überlegen …«
Während er überlegte, versuchte ich mich ein wenig zu beruhigen. Teilnahmslos ließ ich meinen Blick über den mit Plastikskeletten bedeckten Boden schweifen. Mittlerweile fragte ich mich, ob die Knochen wirklich alle falsch waren. Ich schüttelte mich, um den Gedanken wieder loszuwerden. Als ich aufsah, bemerkte ich, dass Mülltoni mich anstarrte. Ich bekam ein äußerst ungutes Gefühl. Hatte er erneut einen Rückfall in die Gehirnwäsche der Domus-Sekte erlitten?
»Deine Haube, Randalf«, sagte er schließlich. »Gib sie mir!«
»Was? Warum?«, fragte ich entgeistert, indem ich die Wollhaube auf meinem Kopf furchtsam betastete. Es war ein schmuddeliges Ding, beinahe widerlich – umso mehr, da ich sie an diesem Tag bereits verwendet hatte, um Mülltoni zu knebeln. Dennoch hing ich daran, stammte sie doch noch aus einer Zeit, in der ich meinen Unterhalt nicht durch Botengänge für einen größenwahnsinnigen Schurken verdient hatte.
»Vertrau mir einfach«, sagte Mülltoni. Auffordernd hielt er mir einen seiner Henkel entgegen. In seinem Blick lag etwas so ernstes, dass ich ihm nicht widersprechen wollte. So nahm ich die Haube schweren Herzens ab und überreichte sie ihm.
Vorsichtig trat Mülltoni daraufhin auf das Podest mit der Kresse zu. Blitzschnell tauschte er die Schale gegen meine Haube aus. Entsetzt schrie ich auf, doch nichts geschah. Kein Pfeilhagel, keine herabschwingenden Klingen, kein mit Pfählen gespitzter Graben.
Mit einem triumphierenden Grinsen im Gesicht überreichte Mülltoni mir die Lügenkresse. »Siehst du, Alter? Alles voll easy.«
Verdutzt blickte ich zuerst ihn, dann die Kresse und schließlich meine Haube an, die nun wie ein Schatz auf dem Podest lag.