Auf der anderen Seite des Schreibtisches – Episode XXI

Seitengassengeschäfte

Auf der anderen Seite des Schreibtisches öffnete sich ein Tor in eine andere Welt. Ich stieg hindurch und hier bin ich nun – gefangen in einer Stadt, in der der Irrsinn herrscht.

Angenehm frisch schlug mir die Luft entgegen, als ich aus dem Gruftmarkt nach draußen trat. Nach dem modrigen Geruch der Verkaufshalle störte mich nicht einmal der beißende Gestank nach Rauch, der von der Straße zu meiner Linken herüberwehte. Auf den Fassaden der Hochhäuser im Westen spiegelten sich die letzten Strahlen der Sonne, während die Stadt darunter bereits in Dunkelheit lag.
Es war frisch geworden. Deshalb schlüpfte ich in den Mantel, den ich eben gekauft hatte. Der Stoff war ein wenig kratzig und fühlte sich unangenehm auf meiner Haut an. Davon, dass er böse Gedanken abwehren und Rückenbeschwerden lindern sollte, bemerkte ich nichts. Trotzdem fühlte ich mich damit nicht mehr ganz so nackt. Auch die hässliche Ektoplasmabrille setze ich auf. Hätte ich jetzt noch meine Haube dazu gehabt, hätte ich mich schon fast wieder wohl gefühlt. Mit einem Anflug von Schwermut fuhr ich mir durch mein unbedecktes Haar. Ich hatte ein schweres Opfer bringen müssen.
Mülltoni kommentierte meinen neuen Stil mit einem erstaunten Pfiff, bevor er wieder von der kometenhaften Musikkariere zu sprechen begann, die uns beide erwarten würde. Ich beachtete ihn kaum, während ich Ausschau nach der Mitfahrgelegenheit hielt, die Horses mir versprochen hatte. Diese war offenbar noch nicht eingetroffen, denn der Parkplatz war – bis auf ein paar Steppenläufer – leer und verwaist. Trotzdem hatte ich das unangenehme Gefühl, beobachtete zu werden.
Schaudernd dachte ich an die Menge, die ich mir im Gruftmarkt zum Feind gemacht hatte. Hier draußen, jenseits der Kassa, schützte mich der Ehrenkodex der Einkäufer nicht mehr. Ich war noch nicht in Sicherheit – nicht bevor ich Luigi dem Lappen meine wertvolle Fracht überreicht hatte. Da ich keine Lust hatte, überfallen zu werden, beschloss ich, in Bewegung zu bleiben. So schlug ich den Kragen meines neuen Mantels hoch und schlenderte betont unauffällig über den Parkplatz.
Horses’ Wagen war immer noch nirgendwo zu sehen. Über die Blumenallee, auf der Feuer und ein gestrandetes Schiff den Weg versperrten, würde er wohl kaum kommen – wenn er überhaupt kam. Daher wandte ich mich der anderen Seite zu. Dort grenzte der Parkplatz an eine schmale Seitengasse. An einer aufgelassenen Mülldeponie entlang führte diese am Gruftmarkt vorbei zu einigen schäbigen Häusern im Schatten einer Autobahnbrücke. Alles in allem erweckte die Gegend keinen allzu vertrauenswürdigen Eindruck.
Dennoch erschien sie mir wesentlich einladender als der Parkplatz des Gruftmarktes. So ging ich gemeinsam mit Mülltoni im Schein der Straßenlaternen den löchrigen Zaun aus Stacheldraht entlang, der die Mülldeponie umgab. Von dort war ein lautes Grunzen zu hören. Wahrscheinlich waren dort Kakerlaken auf der Suche nach verborgenen Schätzen, wie sie es nannten.
Nervös spielte ich mit dem Handy in meiner Hosentasche herum. Einige Male war ich kurz davor, meinen Boss anzurufen. Nichts, dass das irgendetwas gebracht hätte.
»Hey du, hast du mal ein paar Hunderter für eine kleine Investition?«, sagte da plötzlich jemand hinter mir.
Ich zuckte zusammen, fuhr herum und nahm sofort eine Abwehrhaltung ein, bei der ich meine wertvolle Fracht unter meinem Mantel verbarg. Aus dem Gebüsch neben einer Straßenlaterne war ein junger Mann in einem teuren Anzug hervorgetreten. Darunter trug er ein weißes Hemd mit einer grüngestreiften Krawatte. Sein dunkles Haar triefte nur so vor Gel, auf seiner Nase saß eine schmale Sonnenbrille.
»Na, was sagst du?«, fragte er mit einem breiten Lächeln. »Für ein paar Hunderter kann ich dir alles besorgen. Immobilien? Firmenanteile? Kryptowährungen? Potenzmittel? Egal, was du brauchst, ich habe die besten Insidertipps. Und was noch besser ist, du kannst die heißesten Deals gleich bei mir abschließen. Innerhalb von zwei Minuten mach ich dich zum Millionär und du musst nichts dafür tun. Ein paar läppische Hunderter reiche.«
»Nein, danke«, wehrte ich ab. Ich ließ meine Hände sinken. Der Kerl war nur gekommen, um mir irgendetwas anzudrehen, stellte darüber hinaus aber wohl keine Gefahr dar. »Ich habe kein Interesse an Seitengassengeschäften. Außerdem kenne ich mich mit solchen Sachen sowieso nicht aus …«
»Ach komm schon, dafür hast du doch den guten Aktien-Arni«, sagte der junge Mann, indem er seinen Arm kollegial auf meine Schultern legte. »Du musst gar nichts tun. Ich kümmere mich um alles. Für einen kleinen Anteil am Gewinn, versteht sich. Sagen wir hunderteinundzwanzig Prozent?«
»Ich habe kein Interesse!«, knurrte ich, indem ich seinen Arm abschüttelte, mich umdrehte und die Straße entlang davonging.
»Hundertdreiundzwanzig Prozent?«, rief er mir hinterher. »Hundertdreißig? Hundertvierunddreißig? Das ist mein letztes Angebot für das Geschäft deines Lebens.«
Ich hatte keine allzu große Ahnung von Zahlen, doch wusste ich genug, um zu erkennen, dass der Kerl ein Betrüger war. So beschleunigte sich meine Schritte. Doch Aktien-Arni ließ nicht locker und lief mir hinterher, während er pausenlos von allerlei tollen Angeboten sprach, die ich mir keinesfalls entgehen lassen durfte. Dass ich ihm nicht zuhörte, schien ihn nicht zu stören. Mülltoni war mir keine große Hilfe schien er die Angebote doch durchaus gut zu finden.
Als Aktien-Arni erneut seinen Arm um meine Schultern legte, riss mir der Geduldsfaden. »Hören Sie zu«, sagte ich. »Ich würde nicht einmal in Ihren Schwachsinn investieren, wenn ich Geld hätte.« Damit hielt ich ihm meine leere Geldbörse entgegen. Die Motten, die sich darin eingenistet hatten, nutzten die Gelegenheit und entflohen in die Freiheit.
»Das ist nun wirklich kein Problem!«, versprach Aktien-Arni. »Wie es der Zufall so will, habe ich auch Kredite Im Angebot. Hundertzwanzig Laufzeit bei einem lächerlichen Zinssatz von zweihundert Prozent pro Tag – Feiertage ausgenommen. Na, wäre das nichts für dich?« Er schenkte mir ein verschwörerisches Lächeln. »Mit meiner Hilfe werden deine kühnsten Träume wahr. Willst du Milchscheich von Breiistan werden? Kein Problem! Du willst mit Atomwaffen handeln? Oder mit Plüschtieren? Ich bin dein Mann.«
»Das einzige, womit ich handle, sind Duliöhkarten«, schnauzte ich ihn an. »Und jetzt auf Wiedersehen!« Schon wollte ich weitergehen, da packte er mich am Handgelenk.
»Duliöhkarten?«, murmelte er. »So, so. Da hätte ich vielleicht ein Angebot für dich.« Er schob seine Sonnenbrille nach unten, um mir zuzuzwinkern. »Ein komplettes Set der ersten Auflage. In bestem Zustand. Alle Karten von Clevercooler Cafécouchclowncremecomic bis Ovaloriginale Ostorganozeanordenoper.«
»Ja, natürlich«, schnaubte ich abfällig. Besser als jeder andere wusste ich, dass die erste Auflage nur ein Mythos war, den niemand anderer als mein Boss in Umlauf gebracht hatte, um die Absatzzahlen zu erhöhen. In Wahrheit hatte es nie eine erste Auflage gegeben.
»Ganz ehrlich«, behauptete Aktien-Arni im Brustton der Überzeugung. »Ich habe Beziehungen nach ganz oben. Ich kann dir alles besorgen. Ich habe den Bürgermeister und die Präsidentin auf Kurzwahl. Ich …«
»Waffel-Willi, bist du das?«, rief da jemand. Aus dem verwilderten Vorgarten des Hauses zu meiner Rechten trat ein Berg von einem Mann. Er war größer als so mancher Saurier und schien fast nur aus Muskeln zu bestehen. Die obersten Knöpfe seines karierten Hemdes waren offen, seine breite, haarige Brust von Narben übersät. Mit seinem wilden Vollbart und den buschigen Augenbrauen wirkte er überaus furchteinflößend, umso mehr, da er einen äußerst finsteren Blick zur Schau stellte.
»Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du deine krummen Geschäfte anderswo machen sollst?«, donnerte er, indem er sich mit verschränkten Armen vor Aktien-Arni aufbaute.
Der Mann im Anzug zuckte zusammen. »Ich bin nicht mehr Waffel-Willi, sondern Aktien-Arni«, erklärte er, indem er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete, was ihn neben seinem Gegenüber nur umso schmächtiger erscheinen ließ.
»Waffeln sind also out?«, knurrte der Muskelprotz. »Aktien, wie? Wenn deine Mutter das wüsste …« Er knackte vernehmlich mit seinen massigen Knöcheln. »Mach dich vom Acker, Aktien-Arni! Verkauf deine Wertpapiere in Müllhalden, wenn du willst … Hier will ich dich nicht mehr sehen. Das ist eine respektable Nachbarschaft!« Er beugte sich Aktien-Arni herab und fletschte die Zähne. »Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, wie du unschuldige Passanten belästigst, schleife ich dich an dieser lächerlichen Krawatte zurück zu deiner Mutter, haben wir uns verstanden?«
»Schon klar, Waldi«, murmelte der Mann im Anzug niedergeschlagen. Dann lief er eilig davon. Fast hatte ich ein wenig Mitleid mit ihm.
»Nicht zu fassen, diese Bälger«, schnaubte der Muskelprotz. Dann seufzte er laut und ließ die Arme sinken. »Ich hoffe, er hat euch nicht zu sehr belästigt. Er war einmal ein ganz netter Bursche, müsst ihr wissen. Aber seit er diese Fernsehserien gesehen hat, hat er nur noch krumme Geschäfte im Kopf. Letzte Woche waren es Waffeln, die Woche davor Katzenfutter, jetzt sind es Aktien! Was kommt als nächstes? Lügenkresse?« Er warf Mülltoni und mir einen fragenden Blick zu, als wüssten wir eine Antwort darauf. Dann hob er überrascht die Augenbrauen. »Na sieh mal einer an, wenn das nicht der kleine Antonio Müllini ist!«
»Ähm, kennen wir uns, Alter?«, fragte Mülltoni. »Wenn es um diese Sache mit dem Schuhlöffel geht: Ich war es nicht …«
»Ob wir uns kennen?«, erwiderte der Mann mit einem unheimlichen Lächeln. »Natürlich kennen wir uns. Vlad Teppich. Ich habe jahrelang Geld – ähm, Teller, meine ich – für deinen Onkel Giovanni gewaschen.«
»Vlad Teppich …«, murmelte Mülltoni. »Waldi? Ja, jetzt weiß ich, wer du bist, Alter. Ich hatte dich nur irgendwie größer in Erinnerung.« Die beiden umarmten einander. Sie waren wohl tatsächlich alte Bekannte.
»Was für ein angenehmer Zufall!«, sagte Vlad. »Der kleine Antonio … Ich finde, darauf sollten wir anstoßen. Ich wollte eh gerade eine Flasche Wein öffnen. Natürlich keinen so guten Jahrgang wie du ihn von deinem Onkel kennst. Na, was sagst du?«
Bei diesen Worten wurden Mülltonis Augen ganz glasig. »Klar, mein Alter, was immer du sagst.«
»Wir haben noch etwas zu tun«, erinnerte ich ihn, während ich entlang der Straße Ausschau nach unserer Mitfahrgelegenheit hielt. Doch Mülltoni hüpfte bereits hinter seinem alten Freund in dessen verwilderten Vorgarten. Einen Augenblick überlegte ich, ob ich ihn einfach zurücklassen sollte. An diesem Ort war er vermutlich besser aufgehoben als an denen, an die es mich an diesem Abend noch verschlagen mochte.
Ich brachte es nicht über das Herz. So folgte ich ihm uneingeladen in den Vorgarten des schäbigen Häuschens im Schatten der Autobahn.

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