Ein neuer Freund
Auf der anderen Seite des Schreibtisches öffnete sich ein Tor in eine andere Welt. Ich stieg hindurch und hier bin ich nun – gefangen in einer Stadt, in der der Irrsinn herrscht.
Außer Atem ließ ich mich gegen die über und über mit anstößigen Graffiti bedeckte Mauer einer vor Müll nur so überquellenden Hintergasse sinken. Der Deal in Lagerhaus BH-42 war alles andere als reibungslos verlaufen. Nicht, dass ich das nicht erwartet hatte. Trotzdem war es ein herber Rückschlag für mich gewesen. Schließlich hatte ich nicht nur kein Geld bekommen, sondern auch die Ware verloren.
Da meine Kunden – diese lächerlichen Duliöhsüchtigen – herausgefunden hatten, dass die Karten, die ich ihnen verkaufen wollte, falsch waren, würden sie mich nun vielleicht sogar verfolgen, um Rache an mir zu nehmen. Diesen Sammelkartenjunkies war alles zuzutrauen. Zum Glück stand die Sonne hoch am klaren Himmel und diese Kerle mochten, wie ich wusste, kein Sonnenlicht. Trotzdem hatte ich – nur zur Sicherheit – im Laufschritt zwei Häuserblöcke zwischen mich und das Lagerhaus gebracht.
Der Müll, der mich umgab, stank entsetzlich, doch war mir das gerade sehr recht. Duliöhsüchtige waren wie Bluthunde, wenn es um das Aufspüren ihrer geliebten Sammelkarten ging, und der Geruch der Fälschungen haftete noch an mir. Es war höchste Zeit, dass ich noch einige Häuserblöcke zwischen mich und sie brachte.
Zunächst nahm ich jedoch meine Sonnenbrille ab, um mir den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen. Missmutig bemerkte ich, dass sich ein tiefer Riss über das rechte Glas der Brille zog. Heute war eindeutig nicht mein Tag. Ganz in der Nähe stand eine große, graue Mülltonne. Obwohl das angesichts des Abfalles, der achtlos auf dem Boden der Gasse verstreut lag, manch einem als ziemlich sinnlos erscheinen mochte, ging ich doch dorthin und warf die kaputte Sonnenbrille hinein. Ordnung musste schließlich sein.
Mit einem lauten Husten spuckte mir die Mülltonne die kaputte Brille zurück ins Gesicht.
»Hey, Alter, was geht mit dir?«, erklang eine rauchige Stimme. »Bist du komplett bescheuert, oder was? Man wirft doch nicht einfach fremden Leuten Müll in den Mund!«
Verwirrt blickte ich auf die Mülltonne hinab und sie sah mit geröteten Augen zu mir herauf.
»Ich bitte vielmals um Verzeihung«, sagte ich, wobei ich mir ein wenig dämlich vorkam. So etwas geschah mir in dieser Welt alle paar Tage. »Ich habe Sie wohl mit jemandem verwechselt…«
»Verwechselt? Mich, einen Star-DJ, der in den größten Clubs der Welt auflegt?« Plötzlich brach die Mülltonne in Tränen aus. »In meiner Zeit bei Sprayer wäre mir das nie passiert…«
Sie wankte auf mich zu und fiel mir beinahe in die Arme. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht zurückzuweichen. Die Mülltonne war offensichtlich betrunken, denn sie stank stark nach billigem Alkohol.
»Sorry, Alter«, sagte sie, als sie sich wieder einigermaßen gefangen hatte. In ihrem rechten Henkel lag eine halbleere Flasche, mit dem linken hielt sie sich an meiner Hüfte fest, um nicht zu stürzen. »Ich bin echt am Ende«, schniefte sie. »Das musst du dir vorstellen: Einst Mitglied der besten Trash-Metal-Band der Welt, jetzt lungere ich in finsteren Gassen herum, um mich vom Restalkohol irgendwelcher Penner zu betrinken.«
Ich hatte keine Ahnung, wovon die Mülltonne sprach. Doch wegen des Ausrutschers mit der Sonnenbrille hatte ich ein schlechtes Gewissen. So wimmelte ich sie nicht ab und beschloss, mich ein wenig mit ihr zu unterhalten. Ich hatte es augenscheinlich mit einer gebrochenen Existenz zu tun.
»Sie sind also Musiker?«, fragte ich.
Die Mülltonne starrte mich mit verweinten Augen an. »Ich war Musiker… Jetzt bin ich nur noch DJ in irgendwelchen zwielichtigen Spelunken. Antonio Müllini ist mein Name. Ich war mal der Flötist von Sprayer. Vielleicht hast du ja schon von mir gehört.«
Ich schüttelte langsam den Kopf. Ich kannte weder seinen Namen noch den seiner Band. Was aber nichts zu bedeuten hatte. Alles, was ich an Tonträgern besaß, war eine Kassette mit seltsamer Meditationsmusik, die Horses mir geliehen hatte. Ich hatte mir schon lange geschworen, das zu ändern, aber es war gar nicht so einfach, Kassetten für meinen Walkman zu finden. Überall gab es nur diese neumodischen CDs, die ich nicht ausstehen konnte.
»Ach weißt du, Alter, das Musikbusiness ist hart, heutzutage«, lallte Müllini. »Gestern noch haben sie mich gefeiert, heute behandeln sie mich wie Dreck, weil meine Kunst angeblich Müll ist und nicht zu ihrem Stil passt…« Er trank seine Flasche aus und warf sie zwischen ein paar Müllsäcke. Dann veränderte sich sein Tonfall. »Denen werde ich’s zeigen! Undankbares Pack! Ich brauch die gar nicht. Ohne sie bin ich sowieso besser dran. Als Star-DJ werde ich richtig durchstarten! Trash Metal? Pah! Wer hört diesen Schrott eigentlich noch? Hörst du etwa Trash Metal?«
»Ah, nein«, sagte ich. »Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung von Musik. In der Grundschule hat man mir gesagt, ich wäre sogar für die Triangel zu unbegabt…«
»Ach was, Alter, das machen wir schon«, erwiderte Müllini. Plötzlich wirkte er beinahe euphorisch. »Nur du und ich. Ein neues Projekt. Wir werden die Musikszene revolutionieren.«
»Ich glaube nicht, dass…«, sagte ich peinlich berührt. Da bemerkte ich einen Duliöhsüchtigen, der eine Straße weiter um die Ecke spähte. Er hielt sich im Schatten und trug eine türkisen Pullover mit einer riesigen Kapuze, um sich vor dem Licht der Sonne zu schützen.
»Ach, verdammt…«, murmelte ich. »Tut mir leid, Mister Müllini. Ich muss jetzt gehen.«
»Sei nicht so förmlich, Alter, nenn mich Mülltoni, wir sind doch Freunde«, erwiderte die Mülltonne.
Jetzt war ich also schon sein Freund? Das wurde ja immer besser. Duliöhsüchtige und eine betrunkene Mülltonne. Was mir zu meinem Glück noch fehlte, war ein Anruf von Horses, der meine Hilfe bei einer weiteren haarsträubenden Sache brauchte.
In eben diesem Augenblick klingelte mein Handy. Schon bevor ich auf das Display schaute, wusste ich, dass dort Horses‘ Name stehen würde. Ich hatte jetzt andere Probleme. Der Duliöhsüchtige hatte mich bemerkt und fuchtelte wild mit seinen dürren Armen, um seine Spießgesellen auf sich aufmerksam zu machen, die wohl weiter hinten in der Gasse lauerten.
»Ich muss jetzt wirklich gehen«, sagte ich zu Mülltoni.
Doch mein neuer Bekannter ließ sich nicht abwimmeln. Sein Henkel lag immer noch an meiner Hüfte. »Du wirkt ein wenig nervös, Alter«, sagte er. »Was hast du auf dem Herzen? Mir kannst du es sagen, wir sind doch Freunde.«
»Och, nichts Besonderes, nur ein paar Duliöhsüchtige, die mich vermutlich umbringen wollen«, sagte ich leichthin.
»Ach, diese Spinner?«, sagte Mülltoni. »Null Problemo. Gemeinsam schaffen wir die!«
Schon hatten uns zwei Dutzend Jugendliche in türkisen Pullovern von allen Seiten umstellt. Es gab keinen Ausweg mehr. Erst da ließ Mülltoni mich los. Er ballte seine Henkel zu Fäusten – wie auch immer das möglich war – und nahm eine Angriffshaltung ein. Ich hob die leere Plastikflasche, die mir schon im Lagerhaus als Waffe gedient hatte.
Kaum fünf Minuten später lagen zwei Dutzend Duliöhsüchtige stöhnend auf dem schmutzigen Boden der Gasse. Schwer atmend ließ ich mich auf ein mottenzerfressenes Sofa sinken, das zwischen all dem anderen Müll stand. Meine Plastikflasche war verbogen und zerbeult, doch ich hatte es gut überstanden.
Mülltoni schien es sogar besser zu gehen als vor der Schlägerei. Nicht nur, dass er keinen Kratzer abbekommen hatte, die Bewegung schien ihn nüchtern gemacht zu haben. Er setzte sich zu mir und gab mir zwei Duliöhkarten. Leichtleuchtender Lavendellandlachsluchslehrer und Grüngestreifter Grabgöttergiftgrottengnom. Ich erkannte auf den ersten Blick, dass beide Karten echt waren.
»Die habe ich diesen Spinnern abgenommen«, erklärte Mülltoni. »Als Entschädigung. Die werden sie nicht mehr brauchen.«
Ich starrte ihn verdutzt an. »Danke für deine Hilfe, Mülltoni«, sagte ich. Nun waren wir wohl tatsächlich Freunde.