Auf der anderen Seite des Schreibtisches – Episode IX

Zurück in die Schule

Auf der anderen Seite des Schreibtisches öffnete sich ein Tor in eine andere Welt. Ich stieg hindurch und hier bin ich nun – gefangen in einer Stadt, in der der Irrsinn herrscht.

»Was sollen wir mit ihm machen?«, fragte mich der Lehrer, indem er in Richtung der sich am Boden windenden Mülltonne nickte. Immer noch steckten zwei Duliöhkarten in deren rechtem Henkel. »Es wäre mir ein Leichtes, sein jämmerliches Leiden zu beenden…«, fügte er hinzu.
Wie aus dem Nichts erschienen zwei kleine Geodreiecke in seinen behandschuhten Händen. Da ich gesehen hatte, wozu er mit Spielkarten aus Papier fähig war, graute mir vor dem, was er mit spitzen Messgeräten aus Plastik anstellen würde können.
»Nein, nein!«, rief ich sofort abwehrend. »Es ist nicht seine Schuld!«
Das war nur die halbe Wahrheit. Natürlich waren es die Inhaltsstoffe des Sandwiches gewesen, die Mülltoni in den willenlosen Vollstrecker einer Sekte verwandelt hatten. Dennoch konnte ich nicht verleugnen, dass mein Freund das Sektensandwich freiwillig gegessen hatte – all den offensichtlichen Warnsignalen zum Trotz.
In kurzen Sätzen erzählte ich dem Lehrer, was geschehen war. Wie Mülltoni und ich »Doms Döner« betreten und mit Sandwiches verlassen hatten. Wie Mülltoni nach Genuss desselbigen versucht hatte, mich gewaltsam zu einem Anhänger einer Sekte zu machen.
»Ein klarer Fall von Gehirnwäsche«, murmelte der Lehrer. »Die Domus-Sekte arbeitet mit allen Mitteln, um die Weltherrschaft an sich zu reißen. Früher oder später wird sich jemand mit diesen Leuten befassen müssen.«
Mit einer lässigen Bewegung rückte er seine Sonnenbrille zurecht. Es war ein elegantes Modell. Da ich meine heute verloren hatte, würde ich ihn wohl fragen, wo er die seine gekauft hatte.
»Ich kenne jemanden, der sich mit Gehirnwäsche auskennt«, fuhr der schwarzgewandete Mann fort. »Den renommierten Quantenphysiker Doktor Atom Propulsor, um genau zu sein. Allerdings lebt er am Rand der Innenstadt.« Er blickte auf seine sportliche Armbanduhr. »Ich denke nicht, dass uns so viel Zeit bleibt.«
»Weshalb?«, fragte ich bestürzt. »Steht es so schlecht um Mülltoni?«
Der Lehrer schüttelte den Kopf. »Nein. Er wird es überleben. Allerdings wird meine Pause bald vorüber sein und ich muss zurück in die Schule. Außerdem wartet Luigi der Lappen immer noch auf seine Lügenkresse. Er wird wohl langsam ungeduldig, soll ich dir von Big Horse ausrichten.«
Ich seufzte angestrengt. Luigi der Lappen und seine Lügenkresse waren mir im Augenblick ziemlich gleichgültig. »Und weiter? Was sollen wir jetzt tun?«
Der Lehrer kratzte sich nachdenklich am Bart. Dann schnippte er mit den Fingern. »Die Schule!«, sagte er.
»Ja, ich weiß, dass Sie zurück in die Schule müssen, aber ich werde Mülltoni hier nicht zurücklassen«, grummelte ich missmutig. »Ohne mich bekommt Luigi keine Kresse. Der Boss wird sehr wütend sein. Auf mich, auf Sie…«
»Du missverstehst mich, Randalf«, erwiderte der Lehrer seufzend. »Ich hätte dich für klüger gehalten. Alles, was wir brauchen, um deinen Freund zu einem etwas angenehmeren Zeitgenossen zu machen, ist ein Fernseher und der Lehrfilm ›Gehirnwäsche für Anfänger‹. Und wo findet man beides?«
»In der Schule«, schloss ich.
»Richtig, setzen!«, entgegnete der Lehrer.

Um Mülltoni zur Schule zu bringen, mussten wir ihn zunächst ruhigstellen, denn er schien die Aussicht, von seinem religiösem Eifer geheilt zu werden, nicht sonderlich erfreulich zu finden. So schlug er um sich, bis wir ihn mit einem langen Kabel, das ich im Müll gefunden hatte, gefesselt hatten. Zudem knebelten wir ihn mit meiner Wollhaube, damit er uns nicht länger mit seinem Gerede vom Meister und der Erlösung auf die Nerven ging. Dann warf ihn der Lehrer sich wie einen Sack über die Schulter. Seinen Aktenkoffer drückte er mir in die Hand.
»Wenn etwas fehlt, bist du tot, ganz egal, wieviel Big Horse mir bezahlt«, warnte er mich.
Ich nickte beleidigt. Wofür hielt mich dieser Kerl? Ich wollte gar nicht wissen, was sich in dem Koffer befand. Ich hatte schon genügend Schwierigkeiten.
Gemeinsam schlugen wir uns durch ein halbes Dutzend zugemüllter Gassen, bis wir eine stark befahrene Straße erreichten. Von dort aus übernahm der Lehrer die Führung. Keiner der Passanten beachtete uns, als wäre ein großer Mann in schwarzem Mantel, der eine gefesselte Mülltonne auf seiner Schulter trug, nichts Besonderes.
Trotz seiner Last ging der Lehrer so schnell, dass ich nur mit Mühe mithalten konnte. Was vielleicht auch daran lag, dass ich an diesem Tag schon viel zu weit gegangen war und immer noch großen Hunger hatte. Sehnsüchtig betrachtete ich die Restaurants, an denen wir vorbeigingen. Zugleich erschauderte ich bei dem Gedanken, wie viele davon wohl hinter ihrer Fassade das Hauptquartier einer Sekte, die nach der Weltherrschaft strebte, beherbergen mochten.
Innerhalb weniger Minuten hatten wir unser Ziel dann erreicht. Das Schulgebäude war ein hässlicher drei Stockwerke hoher Betonklotz, dessen Außenmauern über und über mit anstößigen Graffiti bedeckt waren. Die Fenster waren vergittert, das große Eingangstor bestand aus Stahl, der aussah, als hätte sich jemand mit einem Rammbock daran ausgetobt. Die Anzahl der davor verstreuten Zigarettenstummel hätten jeden Aschenbecher vor Neid erblassen lassen. Dazwischen fanden sich die Rest von Spritzen und allerlei anderen Werkzeugen, die der Drogenzufuhr dienten. Ein grauenhafter Gestank lag in der Luft.
Als ich an der abweisenden Fassade hochblickte, suchten mich nicht eben angenehme Erinnerungen an meine eigene Schulzeit heim. Nicht, dass ich ein schlechter Schüler gewesen wäre. Ich hatte sogar immer recht gute Noten gehabt. Der Religionsunterricht war meine einzige Schwäche gewesen, hatte ich doch laufend meinem Lehrer gegenüber die Existenz höherer Mächte in Frage gestellt. Darüber hinaus waren mir Schulen jedoch immer schon zu laut und zu belebt gewesen. Früh hatte ich bemerkt, dass ich es nicht mochte, unter Menschen zu sein.
»Wir sollten den Hintereingang nehmen«, riss mich der Lehrer aus meinen Gedanken. »Ich würde nur ungern wieder mit dem Schulwart aneinandergeraten. Er ist mir immer noch böse, weil ich letzten Monat in den Toiletten zwei Leichen entsorgt habe. Er meinte, das würde die Rohre verstopfen…«
»Das will ich gar nicht so genau wissen«, erwiderte ich.
So umrundeten wir also das Gebäude. Der Hintereingang der heruntergekommen Schule blickte auf einen noch heruntergekommeneren Schulhof hinaus, auf dem ein einsamer Baum inmitten einer Wüste aus Beton und Asphalt um sein Leben kämpfte. Unter dem Baum saß ein durchtrainierter Halbstarker in gefälschter Markenkleidung, der sich mit einem Bündel Geldscheinen Luft zu fächerte. Schon aus der Ferne erkannte ich, dass es sich bei den Scheinen um wertlose Fräßers handelte. Ein junges Mädchen in sehr kurzem Rock und bauchfreiem Tanktop warf ihm von der Tür aus seltsame Blicke zu, während es mit einem Klappmesser spielte. Zu ihrer Rechten aß ein pickeliger Saurier in einem viel zu engen T-Shirt lebendige Ratten aus einer Brotdose.
In einer Ecke des Hofes gingen mehrere Duliöhsüchtige ihrer Lieblingsbeschäftigung nach. Seltsamerweise schien sich der Lehrer nicht daran zu stören. »Wenn du deine Querquierlige Quellenqualmquarzquälerqualle nicht gegen mein Kleinkomisches Krugkriecherkachelkängurukalb tauscht, bringe ich dich um«, schrie einer von ihnen, bevor er mit einem Schlagring auf einen anderen losging. Auch das kümmerte den Lehrer offenbar nicht.
»Was für ein lieblicher Ort…«, murmelte ich. Der Lehrer sah mich mit einem unergründlichen Blick durch die Gläser seiner Sonnenbrille an. Fast schien es, als würde er sich amüsieren.
Plötzlich verhärteten sich seine Gesichtszüge. In seiner Hand erschien ein Rotstift, den er so nahe an meinem Kopf vorbeischleuderte, dass ich den Windzug spürte und ein paar meiner Haare verlor.
Am anderen Ende des Schulhofes blieb der Stift in einer Mauer stecken – nur Millimeter von der Nase eines schlaksigen Burschen entfernt. Der Jugendliche trug einen ärmellosen roten Rollkragenpullover und auf dem Rücken ein Schwert, das beinahe so lang wie er groß war und breiter als mein Unterarm.
»Waldemar!«, gellte der Ruf des Lehrers über den Hof. Ein weiterer Rotstift lag wurfbereit in seiner Hand. »Wie oft muss ich dir eigentlich noch sagen, dass in der Schule nur Klingen bis zu einem Meter Länge erlaubt sind?«
Der Bursche namens Waldemar machte große Augen, dann trat er eilends den Rückzug an. Einmal mehr rückte der Lehrer seine Sonnenbrille zurecht. »Nicht zu fassen, diese Jugend heutzutage…«, murmelte er. »Wenn ich diesen Kerl noch einmal erwische, lasse ich ihn dreihundertmal ›Nur durch Gehorsam zum Meister findest du Erlösung!‹ an die Tafel schreiben.«
Bei der Erwähnung dieser Worte zuckte ich zusammen. Es war höchste Zeit, Mülltoni von der Gehirnwäsche zu befreien und diesen Ort zu verlassen, ehe ich mir noch weitere Schwierigkeiten einhandelte. So folgte ich dem Lehrer zur Hintertür, in banger Erwartung, was dahinter wohl lauern mochte.

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