Auf der anderen Seite des Schreibtisches – Episode VII

Verhängnisvolle Mittagspause

Auf der anderen Seite des Schreibtisches öffnete sich ein Tor in eine andere Welt. Ich stieg hindurch und hier bin ich nun – gefangen in einer Stadt, in der der Irrsinn herrscht.

Lustlos kickte ich eine leere, am Gehsteig liegende Blechdose auf die Straße, wo sie sofort von den Rädern eines vorbeirasenden Lastwagens plattgewalzt wurde. Nachdem ich an zwei niedergebrannten Supermärkten vorbeigekommen war und die übrigen sechs auf dem Weg von wütenden Menschenmengen belagert worden waren, erschien mir meine Suche nach der Lügenkresse ziemlich aussichtslos. Freilich gab es in der Stadt mehr als nur diese acht Supermärkte – wahrscheinlich sogar etliche hundert. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass mich dort dasselbe Bild erwarten würde. Außerdem fehlte mir die Zeit, aberhunderte Supermärkte abzuklappern. Bis ich auch nur die Hälfte davon durchhätte, wäre Luigi der Lappen wahrscheinlich verhungert.
Bei dem Gedanken daran, bemerkte ich, dass ich selbst seit dem Morgen nichts gegessen hatte. Nun machte mich mein Magen lautstark darauf aufmerksam. All die Aufregung und das Herumgerenne hatten ein Übriges getan. Es war höchste Zeit für eine wohlverdiente Mittagspause. Alles, wonach ich mich nun sehnte, war, mir in meiner Wohnung eine Packung Fertignudeln zu machen.
Da meine Wohnung allerdings am anderen Ende der Stadt lag und ich noch einen wichtigen Auftrag zu erfüllen hatte, der mich Stunden, wenn nicht Tage kosten würde, musste eine andere Nahrungsquelle her. Zu meiner Überraschung entdeckte ich keine zehn Meter weiter die Straße entlang nicht nur eine, sondern gleich zwei Restaurants, die Tür an Tür im Erdgeschoß desselben Gebäudes zu meiner Rechten untergebracht waren. »Dübels Dürüm« stand über dem Schaufenster der näheren, »Doms Döner« über dem der anderen.
Abgesehen von meinen geliebten Fertignudeln war ich kein Freund von Fastfood, doch das schien meinem Magen im Augenblick ziemlich egal zu sein. Mit einem schnellen Blick überflog ich die Speisekarten der beiden Lokale, die neben den Türen im Schaufenster hingen. Da beide Karten ident waren und auch die Preise dieselben, entschied ich mich aus keinem besonderen Grund für »Dübels Dürüm«.
»Du willst doch nicht wirklich in dem Laden da was essen, Alter?«, fragte mich mein Begleiter Mülltoni, der mit hinter dem Rücken verschränkten Henkeln hinter mir herwatschelte und seinen falschen Schnurrbart streichelte.
»Warum denn nicht?«, fragte ich.
»Naja, es heißt, dass Ismir Dübel von ›Dübels Dürüm‹ Abfall für die Saurier-Mafia entsorgt, wenn du verstehst, was ich meine«, flüsterte Mülltoni mir verschwörerisch zu.
Zu meinem Leidwesen verstand ich nur zu gut. Augenblicklich war mein Hunger verschwunden. Ich wollte schon weitergehen, als Mülltoni mit am Arm packte. »Gehen wir doch da rein«, schlug er vor, indem er auf das Lokal nebenan deutete. »Ich kenne den Besitzer. Der ist ein alter Kumpel von mir. Aus meiner Zeit bei Sprayer.«
»Ach, tatsächlich?«, entgegnete ich skeptisch. Meine letzte Begegnung mit Mülltonis Vergangenheit war nicht gerade erfreulich gewesen.
»Ja, echt, Alter«, entgegnete Mülltoni. »Vertrau mir!« Mich mit sich ziehend stieß er die Tür zu »Doms Döner« auf. Seufzend folgte ich ihm.
Im Inneren des Restaurants herrschte ein schummriges Dämmerlicht. Die Rollläden waren heruntergelassen, um die Mittagssonne auszusperren. Licht kam nur von einer nackten Glühbirne, die kränklich flackernd von der Decke hing. Zur Linken des Eingangs drehte sich ein langer, leerer Dönerspieß quietschend hinter einem staubigen Ladentisch, der aussah, als hätte jemand mit einem Maschinengewehr darauf geschossen. Zwei abgenutzte Duliöhkarten – Echteckige Erzerdeselernteerbin und Supersauberer Schlangenschatzsonnenstachelsortierer – dienten als Untersetzer für Flaschen, die wohl Soßen enthielten. Im Halbdunklen konnte ich entlang der Wände mehrere große Poster ausmachen, auf denen eine Gestalt, die ein Fuchsfell als Kapuze trug, mit beiden Händen etwas umschloss, das Wohl die Welt darstellen sollte. Darunter stand in roter Schrift: »Nur durch Gehorsam zum Meister findest du Erlösung!«
Das allein reichte schon aus, um mir ein mulmiges Gefühl zu bescheren. Die einzigen Gäste, die sich in dem Raum aufhielten, trugen nur noch zusätzlich dazu bei. Zwei hünenhafte Männer in schwarzen Anzügen, die trotz der Dunkelheit Sonnenbrillen trugen, saßen an den beiden Tischen, die eine geschlossene Tür umgaben. Der eine rammte unaufhörlich ein großes Messer in die Tischplatte vor sich, nur um es wieder herauszuziehen. Der andere mischte einen Stapel Duliöhkarten. Beider Augen lagen auf uns.
»Wir sollten gehen«, murmelte ich Mülltoni zu. »Es sieht ohnehin nicht so aus, als gäbe es hier etwas zu essen…«
»Blödsinn«, erwiderte Mülltoni gut gelaunt. »Der Laden ist toll. Wie gesagt, ich kenne den Besitzer.«
Besagter Besitzer war nirgendwo zu sehen, nur die beiden Männer im Anzug, die uns unverwandt anstarrten. Reflexartig sah ich mich nach irgendetwas um, das ich als Waffe würde verwenden können. Mein Blick fiel auf die Soßenflaschen auf dem Ladentisch.
Mülltoni ließ sich davon nicht stören. Betont lässig fuhr er sich durch seinen falschen Schnauzer und nickte den zwielichtigen Gestalten zu, die sich daraufhin kopfschüttelnd abwandten. »Hallo? Irgendjemand da? Wir würden gerne bestellen!«, rief er, obwohl offensichtlich niemand da war.
Die Zeit zog sich in die Länge, während mein Blick zwischen den Männern im Anzug, den Soßenflaschen und der Ausgangstür hin und her huschte. Ein lautes Knarren ließ mich zusammenzucken. Plötzlich öffnete sich hinter dem Ladentisch eine Falltür im Boden. Flackerndes rötliches Licht drang hervor und ein eiskalter Lufthauch trug von Fern etwas wie Gesang heran. Begleitet von den düsteren Klängen einer Orgel konnte ich nicht verstehen, was da gesungen wurde, doch klang es nach einer Art Gebet. Die Haare standen mir zu Berge.
Ein großer, dünner Mann mit ausgemergeltem Gesicht und hervortretenden blassen Augen trat aus der Falltür. Er trug eine Art feierlicher Robe, die mit allerlei seltsamen Zeichen bedeckt war. »Was wollt ihr?«, fragte er mit leiernder Stimme, nachdem er die Falltür mit seinem Fuß geschlossen hatte.
»Jatschgo? Ich bin es, dein Kumpel Mülltoni«, sagte Mülltoni grinsend.
»Wer?«, erwiderte der Mann. »Sind wir uns schon mal begegnet?«
»Erinnerst du dich nicht?«, fragte Mülltoni fast ein wenig beleidigt. »Mülltoni? Antonio Müllini? Sprayer in der Show deines Bruders? Ich war der Typ im Hintergrund, der mit der Flöte. Du warst doch für das Catering zuständig…«
»Äh…«, murmelte der Mann desinteressiert. »Kann schon sein… Aber egal. Was wollt ihr hier?« Er blickte mich an, schien mich jedoch gar nicht wirklich zu sehen. »Seid ihr von der Polizei? Ich habe offensichtlich nichts zu verbergen. Ich kenne diese Domus-Sekte gar nicht. Alles erstunken und erlogen… Ich bin auch ganz bestimmt nicht der Meister…«
»Gut zu wissen, Jatschgo, mein Alter«, erwiderte Mülltoni nickend. »Aber wir sind nur hier, weil mein Kumpel Randalf Hunger hat. Kannst du uns etwas empfehlen? Deinen berühmten Spezialdöner vielleicht?«
»Döner sind aus«, entgegnete der Mann, der wohl tatsächlich Jatschgo hieß, missmutig. »Aber ich habe hier noch ein paar Sandwiches herumliegen. Die könnt ihr haben, wenn ihr unbedingt wollt.« Ehe ich ablehnen konnte, hatte der Mann schon zwei in Alufolie verpackte Sandwiches unter dem Ladentisch hervorgezaubert, die er uns in die Hände drückte.
»Krass, Alter, danke!«, entgegnete Mülltoni. »Wie viel schulden wir dir?«
»Geht aufs Haus!«, entgegnete Jatschgo. Seine Augen schimmerten auf eine Weise, die mir gar nicht gefiel. »Entschuldigt mich jetzt, meine Jünger warten… äh, ich muss das Brot aus der Waschmaschine holen…« Mit wehender Robe stieß er die Falltür auf und schon war er verschwunden.

Erst als ich wieder draußen auf dem Gehsteig stand, wagte ich es, aufzuatmen. Diese Sache war mir nicht geheuer. Vorsichtig schnüffelte ich an dem verpackten Sandwich. Durch die Alufolie stieg mir ein allzu künstlicher Geruch in die Nase. Was auch immer das war – selbst, wenn ich es an einem weniger zwielichtigen Ort bekommen hätte, hätte ich es auf keinen Fall angerührt.
Mülltoni dagegen kannte keinerlei Bedenken. Als ich mich nach ihm umwandte, hatte er bereits die Hälfte seines Sandwiches verschlungen. »Es schmeckt köstlich«, schwärmte er. »Sogar noch besser als erwartet…« Mit einem weiteren Bissen schlang er auch den Rest seiner Mahlzeit hinunter, ehe er mich erwartungsvoll anblickte. »Willst du deines etwa nicht essen?«
»Ich habe keinen Hunger mehr…«, wehrte ich ab.
»Das ist aber schade…«, erwiderte Mülltoni seltsam niedergeschlagen. »Der Meister würde sich so freuen, wenn du dein Sandwich isst. Nur so wirst du Erlösung finden.«
»Wie bitte?«, fragte ich verwirrt. Dann bemerkte ich das wilde Glühen in Mülltonis Augen.
»Der Meister verlangt sogar, dass du es isst«, murmelte er. »Du wirst dem Meister Folge leisten oder ich zwinge dich dazu, Alter.« Er ballte seine Henkel zu Fäusten.

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