Der Weg nach draußen
Auf der anderen Seite des Schreibtisches öffnete sich ein Tor in eine andere Welt. Ich stieg hindurch und hier bin ich nun – gefangen in einer Stadt, in der der Irrsinn herrscht.
Das schrille Läuten der Pausenglocke riss mich aus meinen Gedanken. Die Uhr an der Wand verriet mir, dass eine Stunde vergangen war, seit der Lehrer mich mit Mülltoni allein gelassen hatte. Mein vom Unglück heimgesuchter Freund hatte wahrlich bereits bessere Zeiten gesehen. Nur die Kabelbinder, mit denen er an einen Sessel gefesselt war, hielten ihn noch auf den Beinen. Seine Augen starrten leer und glasig auf den Fernseher, über den der Abspann des Filmes »Gehirnwäsche für Anfänger« lief.
Als hinter mir mit einem lauten Krachen die Tür zum Gang aufgerissen wurde, zuckte ich zusammen. Doch da stand nur der Lehrer in seinem langen schwarzen Mantel mit seinem Aktenkoffer in der Hand. »Wie ist die Lage?«, wollte er wissen, nachdem er den Koffer auf seinem Schreibtisch abgestellt hatte.
Ich zuckte nur mit den Schultern. Als hätte ich irgendeine Ahnung von Gehirnwäsche gehabt.
Also schob der Lehrer sich an mir vorbei, um Mülltoni einer eingehenden Musterung zu unterziehen. »Ausgezeichnet…«, murmelte er. Ohne Umschweife nahm er Mülltoni zuerst die Kopfhörer ab, dann das Klebeband, das dessen Augen offenhielt, und zum Schluss die Haube, mit der wir ihn geknebelt hatten.
Mülltoni regte sich nicht. »Kannst du mich hören?«, fragte der Lehrer ihn.
Mülltonis Augen wanderten im Raum umher, sein Blick war immer noch leer.
»Dein Name ist Antonio Müllini«, sagte der Lehrer. »Du bist ein großer Star-DJ.«
»Mein Name ist Antonio Müllini«, wiederholte Mülltoni monoton. Sein Blick verharrte auf dem Mund des Lehrers. »Ich bin ein großer Star-DJ.«
»Du bist kein Anhänger der Domus-Sekte«, fuhr der Lehrer fort.
»Ich bin kein Anhänger der Domus-Sekte«, entgegnete Mülltoni.
»Alter«, fügte der Lehrer hinzu.
»Alter«, bestätigte Mülltoni.
»Immer wenn du das Wort ›Intervallschachtelung‹ hörst, wirst du dich daran erinnern«, befahl der Lehrer.
»Immer wenn ich das Wort ›Intervallschachtelung‹ höre, werde ich mich daran erinnern«, plapperte Mülltoni nach.
Daraufhin nickte der Lehrer zufrieden. Mit einem langen Messer, das er aus einer seiner Taschen gezogen hatte, durchtrennte er die Kabelbinder. Dann ließ er sich auf den Sessel hinter seinem Schreibtisch sinken. »Ich denke, wir sind hier fertig«, behauptete er, während er mich über die Ränder seiner Sonnenbrille hinweg anblickte.
»Sind Sie sicher?«, fragte ich wenig überzeugt. Obwohl er nicht länger gefesselt war, saß Mülltoni weiterhin vor dem Fernseher und starre ins Leere. Nun, zumindest versuchte er nicht länger, mich gewaltsam zum Anhänger einer Sekte zu machen.
»Es dauert meist eine Weile, bis die Nachwirkungen einer Gehirnwäsche abklingen«, erklärte der Lehrer sachlich.
»Wie lange?«, wollte ich wissen. »Falls Sie es vergessen haben sollten: Ich habe noch zu tun…«
»Das hängt davon ab, wie intelligent dein Kamerad ist«, antwortete der Lehrer. »Ein paar Minuten, höchstens aber drei Tage, dann sollte er ganz der Alte sein. Nun, zumindest größtenteils…« Er griff nach einer Zeitung, die inmitten der Unordnung auf dem Schreibtisch lag. »Sollte er einen Rückfall erleiden, kannst du ihn wieder gefügig machen, indem du das Wort ›Intervallschachtelung‹ sagst.«
»Drei Tage…«, murmelte ich. »So lang kann ich nicht warten.«
»Das musst du auch nicht«, bemerkte der Lehrer. »Antonio! Es ist Zeit zu gehen.«
»Es ist Zeit zu gehen«, wiederholte Mülltoni. Wie in Trance erhob er sich von seinem Stuhl und schlurfte zur Tür. Er schien jedoch nicht zu bemerken, dass diese geschlossen war. So prallte er mit einem dumpfen Geräusch dagegen.
»Siehst du?«, sagte der Lehrer, während Mülltoni erneut versuchte, die geschlossene Tür zu durchschreiten. »Alles kein Problem. Du musst ihm nur sagen, was er tun soll. Er wird dir aufs Wort gehorchen. Ungemein praktisch, finde ich…«
Nur mit Mühe konnte ich mir eine bissige Erwiderung verkneifen. Im Anbetracht der Tatsachen musste ich wohl froh darüber sein, dass Mülltoni überhaupt in der Lage war zu gehen. »Also dann«, sagte ich. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe.«
Der Lehrer nickte. »Ich werde sie Big Horse in Rechnung stellen.« Er schlug die Zeitung auf und verschwand dahinter. Damit war das Gespräch wohl beendet.
Ehe Mülltoni ein weiteres Mal gegen die Tür lief, öffnete ich diese und trat auf den Gang hinaus. Mein Freund folgte mir und stieß sogleich mit einem Schüler zusammen. Dann schlurfte er weiter zur gegenüberliegenden Wand, in dem Versuch, durch sie hindurchzugehen.
Nachdem ich mich bei dem Schüler entschuldigt hatte, drehte ich Mülltoni zu mir um. »Du wirst mir jetzt folgen, ohne mit jemandem zusammenzustoßen oder gegen eine Wand zu rennen«, wies ich ihn seufzend an.
Mülltoni wiederholte meine Worte. Tatsächlich ging er mir nach, als ich den Weg zur Treppe einschlug. Langsam und unbeholfen waren seine Schritte, doch wich er beinahe meisterhaft jedem aus, der auf dem Gang unterwegs war. Mein Wort war ihm Befehl.
Alles ging gut, bis wir die Treppe erreicht hatten. Da ich Mülltoni nicht darauf hingewiesen hatte, auf welche Weise er die Stufen hinabsteigen sollte, trat er sogleich ins Leere und rollte scheppernd hinab, bis er hart auf dem Boden des darunterliegenden Stockwerkes landete. Fluchend eilte ich ihm nach. Als ich unten angekommen war, war meine Freund bereits wieder auf den Beinen und wartete – glücklicherweise unverletzt – auf neue Anweisungen.
Über mir ertönte das Schrillen der Pausenglocke. Die Schüler und Lehrer verschwanden in den Klassenzimmern und schon bald lag der Gang leer und verwaist vor mir. Der Weg nach draußen war frei und doch zog er sich durch Mülltonis langsame schlurfende Schritte quälend in die Länge. Auch als ich ihm befahl, schneller zu gehen, änderte sich nichts daran.
Endlich sah ich dann die Tür zum Schulhof vor mir. Da vernahm ich aus einer Abstellkammer zu meiner Linken ein seltsames Geräusch. Wie das Schnüffeln eines großen Tieres klang es. Nachdem ich bereits auf dem Dachboden dieser Schule Bekanntschaft mit einem Ungeheuer gemacht hatte, hatte ich keinerlei Lust, zu erfahren, was sich in diesem Raum verbergen mochte. Also packte ich Mülltoni am Henkel, um ihn – ohne großen Erfolg – dazu zu bewegen, schneller zu gehen.
Fast hatte ich die Tür zum Hof erreicht, als ich von dort ein ähnliches Geräusch vernahm. Ich saß in der Falle. Fieberhaft sah ich mich nach einem Ausweg um. Ein halbes Dutzend Türen säumten die Wände des Ganges, doch mochten dahinter noch andere Schrecken lauern. Währenddessen wurde das Schnüffeln hinter mir immer lauter. Schließlich ging ich hinter einem überquellenden Abfalleimer in Deckung. Mülltoni folgte mir widerstandslos, nachdem ich ihm befohlen hatte, sich zu verstecken. Er kauerte sich so reglos an die Wand, dass man ihn mit einer herkömmlichen Mülltonne verwechseln hätte können.
Die Tür zum Hof schwang auf und ein ungewöhnlich kräftiger Duliöhsüchtiger mit rosaroten Haarspitzen trat ein. Geduckt schlurfte er den Gang entlang, doch war sein Kopf hoch erhoben, während er mit der Nase schnüffelnd Luft einsog. »Karten…«, murmelte er. »Es richtig nach Karten… Alten Karten… Seltenen Karten…«
Aus dem Abstellraum, an dem ich zuvor vorbeigegangen war, kroch ein weiterer Duliöhsüchtiger heraus. Er hätte der Zwillingsbruder des anderen sein können. »Karten… Wo sind die Karten?«, knurrte er.
Mein Blick wanderte zu den Spielkarten, die ich in meiner Hosentasche aufbewahrte. Mit ihnen hatte ich mir mein Seelenheil erkämpft. Zudem waren sie ein Vermögen wert. Trotzdem bereute ich es nun, sie mitgenommen zu haben. Ich hatte an diesem Tag bereits genügend Ärger mit Duliöhsüchtigen gehabt. Auf eine weitere Schlägerei konnte ich verzichten. Zumal diese beiden aussahen, als könnten mehr austeilen, als ich einsteckten konnte.
Hinter dem Abfalleimer versteckt machte ich mich so klein, wie ich konnte, in der Hoffnung, dass der Geruch des Mülles den der seltenen Karten überdecken würde. Tatsächlich schienen die beiden Duliöhsüchtigen weder Mülltoni noch mich zu bemerken, als sie keine zwei von unserem Versteck entfernt aufeinandertrafen.
»Die Spur endet hier«, bemerkte der eine, während er weiterhin schnüffelnd Luft durch seine Nase einsog.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte der andere. »Hast du die seltenen Karten?«
»Hätte ich seltene Karten, wäre ich nicht hier«, erwiderte der erste zischend.
Die beiden funkelten einander misstrauisch an, machten jedoch keinerlei Anstalten, weiterzuziehen. Dann begannen sie erneut zu schnüffeln. Ich machte mir keine großen Hoffnungen mehr. Früher oder später würden sie mich bemerken. Wenn ich Glück hatte, würden sie mir nur meine Karten abnehmen.
Und doch hatte ich noch nicht aufgegeben. Die Tür nach draußen war nah. Mit einer kleinen Ablenkung würde es mir womöglich gelingen, sie zu erreichen. Ich wählte zwei meiner Karten aus – »Wahlwürdiger Wortweltenwaldwitzwal« und »Ultraulkige Unteruruhrenuhuunke«. Diese band ich mit einem Faden an eine hässliche Puppe, die neben dem Abfalleimer lag. Einen Augenblick lang hielt ich inne. Es war dieselbe Puppe, die ich von dem Ungeheuer auf dem Dachboden bekommen hatte. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich sie im Büro des Lehrers zurückgelassen hatte. Wie war sie hierhergekommen?
Im Grunde spielte das keine Rolle. Ich ergriff die Puppe und schleuderte sie mit aller Kraft nach rechts in den Gang hinein, weg von der Tür. Wie Raubtiere auf der Jagd fuhren die beiden Duliöhsüchtigen herum und nahmen die Witterung der an der Puppe befestigten Karten auf. Einander anknurrend setzten sie sich in Bewegung.
Ich nutzte die Gelegenheit und lief los, Mülltoni hinter mir herziehend. Undeutlich hörte ich Schreie hinter mir, doch ich sah nur die Tür vor mir. Im Lauf stieß ich sie auf und trat nach draußen in die Freiheit.