Auf der anderen Seite des Schreibtisches – Episode XIX

Halt die Kresse!

Auf der anderen Seite des Schreibtisches öffnete sich ein Tor in eine andere Welt. Ich stieg hindurch und hier bin ich nun – gefangen in einer Stadt, in der der Irrsinn herrscht.

Immer noch ein wenig ungläubig betrachtete ich die Lügenkresse, die ich jetzt endlich in Händen hielt. Wie gewöhnliche Gartenkresse in einer Schale aus rotem Plastik sah sie aus, doch war sie so viel mehr. Hart hatte ich mir das begehrte Gemüse erkämpfen müssen, aber letzten Endes hatte sich die Mühe wohl gelohnt. Niemand würde mir diesen Schatz nun noch streitig machen. Wobei … Ich warf einen misstrauischen Blick über die Schulter, doch der Raum war – abgesehen von Mülltoni, der mich siegessicher angrinste – immer noch leer. Trotzdem legte ich vorsichtshalber den Mantel, den ich aus der Esoterikabteilung mitgenommen hatte, über die Schale mit der Kresse.
»Wir sollten gehen«, flüsterte ich. »Luigi der Lappen wartet.« Wenn er nicht bereits verhungert war, fügte ich in Gedanken hinzu. War das der Fall, würde ich ihm das nie verzeihen – bei all den Opfern, die ich für seine Suppe bringen hatte müssen.
Mülltoni nickte aufgeregt. Gemeinsam ließen wir die schummrige Kammer hinter uns und kehrte über den Säulengang in die Friedhofsabteilung zurück. Ehe ich zwischen den Regalen hindurch in die Verkaufshalle trat, spähte ich verstohlen um die Ecke. Zwischen den Grabsteinen, Urnen und Särgen war niemand zu sehen. So schlich ich möglichst unauffällig unter dem grell leuchtenden Pfeil hindurch, der mich zur Lügenkresse geführt hatte. Mülltoni folgte mir laut pfeifend.
Schon hatte ich das Tor der Abteilung durchschritten, als mich etwas an der Schulter berührte. Sofort sprang ich einen Schritt zurück und nahm eine Abwehrhaltung aus dem Granitschgo-Stil ein. Verdutzt blickt mich ein beinahe lächerlich kleiner Saurier in einem etwas zu weiten, abgetragenen Anzug an. Auf seiner langen Nase saß eine große Brille. In den Händen hielt er zwei Duliöhkarten – die seltenen Erstauflagen von »Quietschquasselige Quatschquadratquartierquittequote« und »Züchtigzottliger Zahnzugzährenzwirnzierer«, wie ich am Rande bemerkte. »Sachte, sachte«, sagte er mit piepsiger Stimme. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
»Nichts passiert, Mann«, erwiderte Mülltoni lässig. »Mein Kumpel hier ist heute nur ein bisschen gefrustet, wenn du verstehst. Langer Tag, weißt du? Wir haben in den letzten Stunden sicher 387 Supermärkte abgeklappert. Aber jetzt, da wir die Lügen …«
»Scht«, zischte ich, bevor Mülltoni etwas ausplaudern konnte. Mein Freund blickte mich ein wenig empört an, dann zuckte er mit den Henkeln.
Der Saurier musterte uns inzwischen misstrauisch. »Ich hätte da eine Frage«, sagte er. »Die Verkäuferin hat mich hergeschickt, weil es in der Friedhofsabteilung noch Lügenkresse gibt. Ihr habt nicht zufällig welche gesehen? Ich brauche sie ganz dringend für die Hochzeit meines Onkels dritten Grades.«
»Nein haben wir nicht«, antwortete ich, ehe Mülltoni etwas sagen konnte. Dabei presste ich die Lügenkresse unter dem Mantel eng an mich.
»Na gut, dann muss ich wohl allein weitersuchen«, seufzte der Saurier traurig. »Meine Cousine fünften Grades wird sehr wütend sein …« Mit hängendem Kopf schlurfte er zwischen die Särge davon, ohne den leuchtenden Pfeil zu bemerken, der zu seiner Rechten den Weg in die Kammer mit der Lügenkresse wies.
Erst als er verschwunden war, entspannte ich mich ein wenig. Die Lügenkresse fest umklammert machte ich mich wieder auf den Weg. In der Hoffnung, niemandem mehr zu begegnen schlich ich eilig durch die verwinkelten Gänge des Gruftmarktes in Richtung der Kassa. Mülltoni schlenderte mir gut gelaunt und alles andere als schnell hinterher. Gelegentlich hielt er an, um ein Produkt zu mustern, das sein Interesse geweckt hatte. Dadurch kamen wir nur sehr langsam voran, was ihn aber nicht zu stören schien.
Als er dann äußerst fasziniert einen Hufreiniger aus vergoldetem Ebenholz betrachtete, hatte ich endgültig genug von seiner Trödelei. »Ich weiß nicht, was du vorhast, aber wir sind nicht zum Vergnügen hier«, fauchte ich ihn an. »Wir sollten zusehen, dass wir hier rauskommen, bevor jemand bemerkt, dass wir die letzte Kresse haben.«
»Komm mal wieder runter, Alter«, erwiderte Mülltoni leichthin. »Wir haben, was wir wollten. Was soll jetzt schon noch passieren?« Sein Blick wanderte den Gang hinab zur Esoterikabteilung. »Ich glaube, ich werde noch ein paar Wünschelruten für unterwegs mitnehmen. Man kann ja nie wissen …«
Schon ging er los, aber ich ergriff seinen Henkel und hielt ihn zurück. Unter keinen Umständen würde ich ihn noch einmal in die Esoterikabteilung gehen lassen. Zuvor hatte er schon fast den Verstand verloren, als er dort die CD von Sprayer, seiner ehemaligen Band, gesehen hatte. »Wenn wir die Kresse abgeliefert haben, bekommst du so viele Wünschelruten, wie du möchtest«, versprach ich ihm. »Jetzt müssen wir aber gehen.«
Mülltoni beäugte mich skeptisch. »Na gut, Alter«, seufzte er theatralisch, dann schlug er den Weg zur Kassa ein.
Kopfschüttelnd folgte ich ihm. Gerade bogen wir um eine Ecke in einen weiteren Gang ein, als wir beinahe mit einer Gruppe finsterer Gesellen zusammenstießen. Zu dritt waren sie – Mitglieder einer Bikergang, allem Anschein nach, denn sie trugen zusammenpassende schwarze Lederjacken, zerschlissene Jeans und mit Nieten besetzte Stiefel. Einer von ihnen – ein kräftiger Glatzkopf – kaute gedankenverloren an einer Fahrradkette herum. Der zweite war nicht weniger kräftig, hatte lange, schwarze Haare und ein Stück Broccoli, das wie eine Zigarre in seinem Mund steckte. Der dritte im Bunde war ein großer, dürrer Kakerlak mit einem breiten Hut und einer Sonnenbrille.
»Könnt ihr nicht aufpassen?«, knurrte er mich an, indem er zwei seiner Hände zu Fäusten ballte. »Oder wollt ihr vielleicht Streit?«
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte ich, indem ich vorsichtig einen Schritt zurückwich. »Das war nur ein Versehen.«
Die drei funkelten mich böse an. Der Glatzkopf spuckte mir ein Glied seiner Fahrradkette vor die Füße. »Nicht genug, dass wir diese alberne Kresse nicht finden können, müssen wir uns auch noch mit irgendwelchen Waschlappen herumschlagen«, murmelte er.
»Gar nichts müsst ihr«, sagte ich. »Wir sind schon weg. Viel Glück noch auf der Suche!«
Damit schob ich mich vorsichtig an den dreien vorbei, eifrig darauf bedacht, dass sie Kresse in meinen Armen nicht zu Gesicht bekamen. Während ich versuchte, die Biker nicht aus den Augen zu lassen, stolperte ich über eine Frau in schillernden Gewändern, die am Boden kniete und in einem der unteren Regale etwas zu suchen schien. Gerade so entging ich einem Sturz, indem ich wild mit den Armen ruderte.
»Verzeihung«, murmelte ich, als ich das Gleichgewicht wiedergefunden hatte und bemerkte, dass die Frau nicht allein war. Etwa ein Dutzend seltsamer Gestalten in ebenso bunten Gewändern durchkämmten die Regale hinter ihr.
Wo kamen plötzlich all die Leute her? Bevor ich die Lügenkresse gefunden hatte, hatte ich – mit Ausnahme einer Verkäuferin – niemanden in diesem Laden gesehen. Jetzt aber schien es in der Verkaufshalle vor Kundschaft nur so zu wimmeln. Auch der Gang zu meiner Linken war voller Menschen, die leise murmelnd die umstehenden Regale nach etwas absuchten. Leider konnte ich nur zu gut erahnen, wonach sie Ausschau hielten.
»Die Kresse«, hauchte die Frau, über die ich gestolpert war. Ein unheimlicher Funke glomm in ihren blassen, grünen Augen. »Er hat die Kresse!« Die letzten Worte stieß sie als lauten Schrei aus – laut genug, um alle in meinem Umkreis auf mich aufmerksam zu machen. Zu spät bemerkte ich, dass der Mantel von der Schale gerutscht und die Lügenkresse deutlich zu sehen war.
Rasch schlossen die Biker zu mir auf. Vor mir verstellten Leute in schillernden Gewändern den Weg, aus den Seitengängen eilten noch andere Kunden herbei. Mindestens drei Dutzend Augenpaare lagen auf dem Schatz in meinen Händen. An den Gesichtern konnte ich ablesen, dass diese Leute zu allem bereit waren, um diese wertvolle Schale an sich zu bringen.
»Randalf, mein Alter«, murmelte Mülltoni an meiner Seite. »Dies sieht nicht allzu gut aus.«
Ich musste ihm Recht geben. Wir waren umzingelt. Verzweiflung stieg in mir auf, zugleich aber auch Trotz. Ich nahm eine Kampfhaltung aus dem Granitschgo-Stil an, die diesmal jedoch auf Angriff, nicht auf Verteidigung ausgerichtet war. Es gab nur eine Möglichkeit, den Gruftmarkt mit der Kresse in meinen Händen zu verlassen. Ich musste mich zur Kassa durchschlagen. Dort angelangt würde mich der Ehrenkodex schützen, der von allen Einkäufern in dieser Stadt eingehalten wurde.
»Ihr wollt die Lügenkresse?«, rief ich in die Runde. »Dann holt sie euch! Über meine Leiche!«
»Lügenkresse! Lügenkresse!«, rief die zornige Menge wie aus einem Mund. Einige der Leute hatten sich mit Konservendosen, Sprühflaschen, Salatgurken oder Dreschflegeln bewaffnet. Sie waren zu allem bereit. Ebenso wie ich.
»Halt die Kresse!«, rief ich Mülltoni zu, indem ich ihm die Schale entgegenhielt.
»Was? Aber Randalf!«, erwiderte dieser empört. »Ich muss doch sehr bitten. Nicht in diesem Ton!«
»Du sollst die Kresse halten, während ich uns einen Weg frei schlage!«, erklärte ich. Hastig drückte ich ihm die Schale in die Hand. Dann stellte ich mich dem Feind mit einem grimmigen Lächeln auf den Lippen.

Geschickt wehrte ich Fausthiebe, Teekannen, Saugglocken und Bratwürste ab, während ich mich durch die Menge schlug. Es war ein wenig wie damals, als ich für Horses Ohrenwärmer im Sommerschlussverkauf besorgt hatte. Nur, dass es diesmal alle auf mich abgesehen hatten. Seltsamerweise schlug ich mich gar nicht so schlecht, obwohl der Feind klar in der Überzahl war. Innerlich dankte ich Fuzgo Granitschgo dafür, dass er mich in seiner Kampfkunst ausgebildet hatte. Nur dadurch gelang es mir, die vielen gierigen Hände von Mülltoni und der Lügenkresse fernzuhalten, während ich mich langsam zum Kassenbereich vorarbeitete.
Nur eine Kassa war besetzt. Gelangweilt lungerte dort dieselbe Verkäuferin herum, die ich schon zuvor gesehen hatte. Der Aufruhr in den Gängen schien sie kaum zu kümmern. Mit skeptischem Blick betrachtete sie die Uhr, die über der Eingangstür hing und offenbar zu Mittag stehen geblieben war.
Ich stieß einen der Biker in einen Haufen Säcke voller Entenfutter, schüttelte einen buntgewandeten Saurier ab, der sich an meinem Arm verbissen hatte. Dann ergriff ich Mülltonis freien Henkel. Mit aller Kraft, die ich noch aufbringen konnte, riss ich ihn hoch und schleuderte ihn mitsamt der Kresse auf das Kassaband. Als die Verkäuferin die Schale scannte, ging ein ernüchterter Aufschrei durch die Reihen und meine Verfolger ließen von mir ab. Ich hatte es geschafft.

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