Auf der anderen Seite des Schreibtisches – Episode IV

Per Brücke durch die Straßen

Auf der anderen Seite des Schreibtisches öffnete sich ein Tor in eine andere Welt. Ich stieg hindurch und hier bin ich nun – gefangen in einer Stadt, in der der Irrsinn herrscht.

Missmutig trottete ich mit einer sprechende Mülltonne im Schlepptau eine von Abgasen verhangene Straße entlang. Zum wiederholten Male dachte ich über die Pechsträhne nach, die mich schon den ganzen Tag lang verfolgt hatte. Nicht nur, dass ich mich wegen gefälschter Spielkarten mit Duliöhsüchtigen prügeln hatte müssen, hatte auch noch jemand mein Fahrrad verschwinden lassen. Dazu kam, dass die Busfahrer auf Anordnung der Stadtverwaltung Streiktag feierten, während ich für meinen Boss eine Besorgung am andere Ende der Stadt machten sollte.
Nun war ich also zwangsweise bereits eine geschlagene Stunde zu Fuß unterwegs und meine Beine wurden langsam schwer. Die grelle Sonne, die von den zu meiner Rechten vorbeirasenden Autos und den hässlichen Fassaden der umstehenden Gebäude reflektiert wurde, stach mir in die Augen. Zum wiederholten Male kramte ich in den Taschen meines zerfledderten Mantels nach meiner Sonnenbrille, bis ich mich daran erinnerte, dass ich sie im Kampf gegen die Duliöhsüchtigen verloren hatte. Ich würde mir so bald wie möglich eine neue besorgen müssen.
Auch der Smog, der in dichten Schwaden von der stark befahrenen mehrspurigen Straße herüberzog, trug nicht eben zu meinem Wohlbefinden bei, ganz zu schweigen von meinem Begleiter Mülltoni, der mir seit Stunden die Ohren mit seinen Ideen für unsere gemeinsame Musikkarriere volllaberte. Zudem hatte mich in der zwischen den Gebäuden angestauten Hitze der Durst zu quälen begonnen.
Als ich wie aufs Stichwort im Schatten eines heruntergekommenen Buchladens einen Getränkeautomaten entdeckte, wurde ich sofort misstrauisch. Mein Glück hatte mich an diesem Tag so oft im Stich gelassen, dass ich es nicht wagte, noch darauf zu vertrauen.
Wie sich zeigte, waren meine Zweifel berechtigt. Der Automat war zwar in beachtlich gutem Zustand, allerdings war alles ausverkauft, was keinen Alkohol enthielt. Nur noch Sauriersake, Kakbier und Idiotenmost, abgefüllt in quietschbunten Blechdosen, gab es dort zu kaufen. Ein Gesöff widerlicher als das andere. Als ich bemerkte, wie Mülltoni beim Anblick der Getränke glasige Augen bekam, packte ich ihn am Henkel und zog ihn weg. Schon in einem halbwegs nüchternem Zustand war mein Begleiter schwer auszuhalten.

»Maaann, ist das anstrengend…«, jammerte Mülltoni zehn Minuten später. »Von diesem Herumgerenne tun mir schon die Füße weh und ich habe ja noch nicht mal welche…«
Seufzend lieb ich stehen. »Ich habe dich nicht darum gebeten, mit mir zu kommen«, erklärte ich zum wiederholten Mal.
»Das kann schon sein«, erwiderte Mülltoni. »Trotzdem wirst du mich noch brauchen, also bleibe ich bei dir. Aber ich habe echt keinen Bock, den ganzen Weg zum Hafen zu Fuß zu laufen. Meine Tage als Spaziergänger sind schon lange vorbei…«
Genervt zuckte ich mit den Schultern. »Und was schlägst du stattdessen vor? Sollen wir vielleicht fliegen? Oder uns einfach irgendwo ein Auto klauen?«
»Du schreckst auch vor nichts zurück, Alter«, murmelte Mülltoni ehrfurchtsvoll. »Eiskalt. Ein krasser Gangster. Vielleicht sollten wir noch mal darüber reden, ob wir nicht lieber Rap statt Country produzieren wollen.«
Ich verdrehte die Augen. Im Laufe der vergangenen Stunden hatte ich mehrmals vergeblich versucht, meinem Begleiter zu erklären, dass ich nicht darauf aus war, irgendwo als Musiker – ganz gleich welcher Stilrichtung – aufzutreten. Aber Mülltoni ließ nicht locker. Ehe er erneut mit seinen Ausführungen beginnen konnte, hakte ich noch einmal nach. »Also? Wie kommen wir zum Hafen?«
»Wir könnten ja per Anhalter fahren«, schlug Mülltoni vor.
»Natürlich«, erwiderte ich trocken. »Was für eine großartige Idee. Wir beide sehen ja auch so vertrauenswürdig aus. Wer würde uns nicht mitnehmen?« Meine Stimme troff vor Sarkasmus, doch das schien mein Gegenüber nicht zu bemerken. Vielmehr nickte Mülltoni eifrig.
Unglücklicherweise fiel mehr auch nichts Besseres ein. So standen wir dann also mit erhobenen Daumen an der Straße und warteten darauf, dass jemand anhielt. Für die vorbeirasenden Autos mussten wir ein lächerliches Bild abgeben. Ein Mann in einem zerrissenen Regenmantel mit einer Wollhaube auf dem Kopf und eine heruntergekommene Mülltonne. Wer hätte einem solchen Pärchen widerstehen können?
Entgegen meinen Erwartungen war es kein Problem, ein Fahrzeug zum Anhalten zu bewegen. Bald schon waren es eher die Beweggründe der Fahrer, die mir Sorgen bereiteten. Mehrmals versuchte man uns Drogen anzudrehen. Einmal wurden wir mit Waffen bedroht, ein anderes Mal wären wir fast entführt worden. Zweimal hielt man uns für Stricher auf der Suche nach Kundschaft. Weil sie mich so süß fand, steckte mir dabei eine ältere Dame zwei Duliöhkarten zu – Blödblauer Blumenbrandbrutbärenbarsch und Täglichträger Trampeltrantrugtürtrichter. Als ich sie abwimmelte, hieb sie mir mit einem rosafarbenen Regenschirm über den Kopf, ehe sie unter wildem Hupen davonbrauste.
»Alter«, beklagte Mülltoni sich. »Wenn du weiterhin so wählerisch bist, stehen wir in zwei Wochen noch hier herum.«
»Tut mir leid…«, murmelte ich halbherzig. Mein Gegenüber war vielleicht bereit, für eine Mitfahrgelegenheit seine Seele zu verkaufen, ich war es nicht. Trotzdem fühlte ich mich verpflichtet, hinzuzufügen: »Mit dem nächsten fahren wir mit. Versprochen.«
Beinahe im selben Augenblick bereute ich meine Worte. Denn, was danach vor uns stehen blieb, war kein Auto, Laster, Bus oder sonst irgendein Fahrzeug, das diese Bezeichnung verdient hätte. Vielmehr sah es aus wie eine Brücke, die jemand aus dem Boden gerissen und auf Räder gestellt hatte. Ein mehr als fünfzehn Meter langer und fünf Meter hoher Bogen aus Beton spannte sich von einer Radachse zur anderen. Darüber war ein eisernes Geländer angebracht. An der Seite, die der Straße zugewandt war, befand sich ein halbgeöffnetes Wehr, das mit einem kleinen Häuschen auf der Hinterseite der Brücke verbunden war. Gegenüber davon war eine rostige Leiter angebracht, die beinahe bis zum Gehsteig herabreichte.
»Wo soll es denn hingehen?«, rief uns ein Riesenkakerlak von oben herab zu. Mit seinem massigen Hinterleib und dem großen Kopf wirkte er etwas untersetzt. Er hatte nur ein Auge, das unter etwas hervorlugte, das aussah wie ein Hut in der Gestalt einer Brücke, aber auch ein Teil seines Körpers sein mochte. Zwei lange rote Zungen ragten aus seinem breiten Mund.
Ich hatte mich schon so sehr an die Kakerlaken gewöhnt, die neben Menschen, Sauriern und allerlei anderen Gestalten in dieser Stadt lebten, dass ich mich nicht allzu sehr über die seltsame Erscheinung des Fahrers wunderte. Keine der übergroßen Schaben sah aus wie die andere. Grundsätzlich ging ich diesen Geschöpfen, die zwar sprechen konnten, aber meist nicht mit übermäßiger Intelligenz gesegnet waren, lieber aus dem Weg. Aber ich erinnerte mich wohl an das voreilige Versprechen, das ich Mülltoni gegeben hatte.
»Zum Hafen«, antwortete ich also. »Könnten Sie uns vielleicht ein Stück mitnehmen?« Fast hoffte ich, der Kakerlak würde ablehnen.
»Aber sicher«, sagte er stattdessen freundlich. »Springt auf!«

Seit ich in diese Welt gekommen war, hatte ich zahlreiche merkwürdige Dinge erlebt. Dies war jedoch das erste Mal, dass ich auf einer Brücke durch die Stadt fuhr. Das war – um ehrlich zu sein – gar kein schlechtes Gefühl. An das Geländer der Brücke gelehnt blickte ich auf die Autos hinab, die uns laut hupend und äußerst ungern Platz machten. Der Gestank der Straße lag unter mir. Hier oben spürte ich nur den Wind auf meinem Gesicht. Es war beinahe so, als würde ich auf einem Schiff durch ein Meer aus Abgasen segeln.
Die wüsten Beschimpfungen der anderen Verkehrsteilnehmer schienen Brücklak – so war der Name unseres Fahrers – nichts auszumachen. An etwas gelehnt, das wie das Steuerrad eines Schiffes aussah, unterhielt er sich seelenruhig mit Mülltoni über etwas, das »Kakerlakenbuch der Legenden« hieß. Außerdem bot er uns etwas zu trinken an – Kakbier, wie ich ernüchtert feststellte. Ich lehnte ab, Mülltoni ließ sich diese Gelegenheit dagegen nicht entgehen. So stieß er mit dem Fahrer an, während wir mit großer Geschwindigkeit die Straße entlangrauschten.
Vorbei an einem Gotteshaus der Kirche der Karotte bogen wir in eine viel zu schmale Gasse ein, die auch noch stark abschüssig war. Die Brücke wurde noch schneller, streifte Straßenlaternen und Vordächer, rammte Mülltonnen und Hydranten aus dem Weg, doch das schien Brücklak nicht zu stören. Mit einem zunehmend mulmigen Gefühl klammerte ich mich an das Brückengeländer und verlor mich in Tagträumen von besseren Zeiten und anderen Orten.

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