Auf der anderen Seite des Schreibtisches – Episode V

Wilde Flucht

Auf der anderen Seite des Schreibtisches öffnete sich ein Tor in eine andere Welt. Ich stieg hindurch und hier bin ich nun – gefangen in einer Stadt, in der der Irrsinn herrscht.

Die Brücke hielt so plötzlich an, dass ich beinahe den Halt verloren hätte und fünf Meter in die Tiefe gestürzt wäre. Ich konnte mich gerade noch festhalten, indem ich mich wie ein Affe mit Händen und Füßen an das eiserne Geländer klammerte. Die Seltsamkeit meiner Lage war mir kaum bewusst, wohl aber war ich ein wenig wütend darüber, dass ich so unvermittelt aus meinen Tagträumen gerissen worden war.
Schwer atmend ließ ich das Geländer los, richtete mich auf und rückte meinen zerfledderten Mantel zurecht. Dann funkelte ich Brücklak, den Fahrer der Brücke finster an. Er hielt immer noch eine Flasche Kakbier in der Hand, deren Inhalt jedoch auf meinem Freund Mülltoni gelandet war, der sich neben ihm gerade noch so auf seinen nicht vorhandenen Beinen hielt.
»Was sollte das?«, blaffte ich den Fahrer an.
»Die Bullen…«, knurrte Brücklak missmutig. Sein einzelnes Auge blickte in Richtung der Straße.
Dort stand tatsächlich ein gepanzertes Polizeiauto, wie man es in dieser Stadt allzu häufig zu Gesicht bekam. Quer über die Straße geparkt versperrte es der fahrenden Brücke den Weg. Eine uniformierte Beamtin saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf der Motorhaube und lud lässig Patronen in eine Schrotflinte. Sie würdigte die fahrende Brücke keines Blickes, ihr Kollege jedoch – ein Muskelprotz, der sogar die meisten Saurier in den Schatten gestellt hätte und alles andere als freundlich wirkte – näherte sich uns, während er einen Schlagstock in seiner Hand herumwirbeln ließ.
»Alter, wir sollten schnellstens verduften«, flüsterte Mülltoni mir zu. Sein glasiger Blick huschte unstet umher.
»Warum?«, wollte ich wissen. Ich mochte die Polizei nicht, doch hatte ich nichts Unrechtes getan. Zumindest innerhalb der letzten Stunden nicht. Ich hatte also keinen Grund, die Gesetzeshüter zu meiden. Außerdem standen die meisten von ihnen ohnehin auf der Gehaltsliste meines Bosses.
»Es könnte sein, dass diese Typen mich wegen einer Sache suchen, über die ich nicht sprechen will«, erwiderte Mülltoni. Er wirkte ziemlich nervös. »Komm schon, Mann…«
Ich seufzte angestrengt. Ein kurzer Blick auf die Umgebung sagte mir, dass wir uns in der Nähe des Hafens befanden. Wir waren also fast am Ziel. »Na gut«, gab ich nach. »Verschwinden wir von hier.« Das Geräusch von Schuhen, die auf Sprossen traten, verriet mir, dass der Polizist bereits die Leiter zur Brücke heraufkletterte. »Aber wie?«, fügte ich hinzu, war besagte Leiter doch der einzige Weg zur Straße, die fünf Meter unter uns lag. Für einen Sprung war mir das viel zu hoch.
»Dort«, sagte Mülltoni, indem er mit seinem Henkel auf einen großen Heuhaufen deutete, der aus irgendeinem unerfindlichen Grund einen Parkplatz hinter der Brücke bedeckte.
»Bist du sicher, dass das…?«, setzte ich an.
»Vertrau mir einfach, Alter«, erwiderte Mülltoni. Er bedankte sich bei Brücklak für die Fahrt, nahm Anlauf und sprang. Kopfschüttelnd beobachtete ich, wie er mit rudernden Henkeln im Heu landete und unter leisen Flüchen zur Straße hinabrollte.
Hinter mir tauchte soeben der Kopf des Polizisten über der Kante der Brücke auf. Ohne nachzudenken, hechtete ich Mülltoni hinterher. Die Landung drei Meter tiefer war weicher als erwartet. Als ich mich zur Brücke umdrehte, sah ich, wie der Polizist von oben auf mich herabblickte. Obwohl er mich eigentlich im Heu hätte liegen sehen müssen, schien er mich nicht zu bemerken.
Er blinzelte verwirrt, murmelte etwas in seinen stoppeligen Bart hinein und wandte sich schließlich schulterzuckend dem Fahrer der Brücke zu. »Sie wissen, warum wir Sie angehalten haben?«, knurrte er. »Führerschein und Zulassungspapiere bitte…«
»Das ist eine fahrende Brücke«, erwiderte Brücklak. »Dafür braucht man sowas nicht. Laut Paragraph siebzehn Absatz neun…«
Den Rest des Gespräches bekam ich nicht mehr mit, weil ich den Halt verlor und mit lauten Aufschrei nach unten rutschte. Erst am Fuß des Heuhaufens wurde mein Sturz gebremst, als ich hart auf Mülltoni landete.
»Alter, was soll das denn?«, jammerte die sprechende Mülltonne. »Du solltest dringend abnehmen…«
Ich verscheuchte eine Ziege, die aus dem Nichts aufgetaucht war, um an meiner Wollhaube zu knabbern, und rappelte mich auf. Ich schüttelte meinen Mantel aus, um das Heu loszuwerden, dann reichte ich meinem Freund die Hand. »Würdest du mir jetzt vielleicht verraten, weshalb wir gerade von einer fünf Meter hohen Brücke in einen Heuhaufen gesprungen sind? Was hast du mit diesen Leuten zu schaffen?«
»Das geht dich gar nichts an, Alter«, schmollte Mülltoni. »Ach, verdammt…«
Angelockt von dem Lärm hatte die Polizistin ihren Platz auf der Motorhaube verlassen und kam nun mit langsamen Schritten auf uns zu. Die Schrotflinte ließ sie bedrohlich auf ihrer Schulter ruhen. Ehe ich mich versah, hatte Mülltoni mich an der Hand gepackt und in eine schmale Seitengasse gezogen. Ich folgte ihm nur widerwillig, während ich hinter mit laute Rufe vernahm. Wieder einmal fragte ich mich, was ich da eigentlich tat. Mülltoni hatte eigentlich Recht. Was ging es mich an, warum die Polizei hinter ihm her war? Das war seine Angelegenheit und betraf mich nicht. Eigentlich hätte ich hier und jetzt meiner Wege ziehen sollen. Andererseits hatte er mir bei meinem Kampf mit den Duliöhsüchtigen geholfen. Ich stand also gewissermaßen in seiner Schuld.
So hastete ich ihm also hinterher. Ich hoffte nur, dass sich diese Sache nicht allzu lange hinziehen würde. Ich hatte schließlich noch einen Auftrag zu erledigen. Luigi der Lappen würde nicht ewig auf seine Lügenkresse warten. Ein Müllsack, der neben mir in Tausende Fetzen zerrissen wurde, brachte mich zurück in die Gegenwart. Die Polizistin hatte die Verfolgung aufgenommen und ihre Schrotflinte auf uns gerichtet.
»Die sind doch irre…«, sprach Mülltoni mir aus der Seele, als eine Mülltonne neben ihm getroffen wurde. »Das hätte mein Bruder sein können…«
»Bleibt endlich stehen!«, hörte ich die Polizistin schreien. »Sonst sorge ich dafür, dass ihr nie wieder stehen könnt!«
»Ich verlange einen Anwalt!«, rief Mülltoni ihr im Laufen zu. Sie antwortete mit einem Schuss, der mich nur knapp verfehlte und einen Teil meines ohnehin schon sehr ramponierten Mantels abtrennte.
Meine Lunge brannte vor Anstrengung, doch die Angst gab mir Kraft. Und so lief ich weiter.
Vor mir tauchte ein zwei Meter hoher Maschendrahtzaun auf und versperrte mir den Weg. Da ich mir nicht vorstellen konnte, wie Mülltoni dieses Hindernis hätte überwinden sollen, packte ich ihn bei den Henkeln und stemmte ihn nach oben. Mit einem lauten Scheppern landete er auf der anderen Seite des Zaunes. Ich kletterte ihm nach, so schnell ich konnte, und ließ mich elegant neben ihm zu Boden gleiten.
Wir fanden uns in einem besonders hässlichen Hinterhof wieder, zwischen einem halben Dutzend großer, stinkender Müllcontainer, umgeben von zehnstöckigen Wohngebäuden. Da es uns auf irgendeine Art und Weise gelungen war, unsere Verfolgerin abzuhängen, nutzten wir die Gelegenheit, um hinter einem der Container in Deckung zu gehen. Während ich versuchte, zu Atem zu kommen, ließ ich meinen Blick über den Hof schweifen. Wahrscheinlich hundert Fenster blickten finster auf uns herab. Türen gab es keine. Ebenso wenig Gassen, die aus dem Hof hinausführten – mit Ausnahme der, durch die wir gekommen waren. Wir saßen in der Falle.
»Ich fürchte, das war es dann wohl«, sagte ich schnaufend. »Wir werden uns stellen müssen…«
»Niemals«, entgegnete Mülltoni hechelnd. »Ich werde nicht… Ich kann nicht… Ich bin doch noch so jung…« Sein Blick fiel auf etwas, das hinter mir auf einem Berg aus Müll lag. »Das ist es!«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein«, erwiderte ich.
»Vertrau mir einfach, Alter!«, sagte Mülltoni grinsend.

Keine zwei Minuten später schlenderten wir seelenruhig auf den Hof hinaus. Die Polizistin stand in einer Tür im Zaun und sah sich verwirrt um. Als sie uns erblickte, kam sie uns entgegen. Ich spürte, wie mein Herz zu rasen begann.
»Guten Tag, die Dame, der Herr!«, sagte sie. »Haben Sie zufällig einen Penner in Mantel und Haube und eine Mülltonne vorbeirennen sehen?«
»Nischt, dass isch wüsste, Madame«, säuselte Mülltoni in einem furchtbaren Akzent. »Isch bin eine ährbare Regentonne, mit Mülltonnen gebe isch misch nischt ab.« Er strich sich mit dem Henkel über den falschen Schnurrbart, den er im Müll gefunden hatte.
Hinter meinem aus Klebeband und zwei abgenutzten Duliöhkarten – Miesmatschiger Mehrmoormürbmenschenmeuchler und Vielvolles Volksvogelvorverkehrsvieh – zusammengekleisterten Fächer verdrehte ich die Augen. Die Polizistin warf mir einen misstrauischen Blick zu. Da ich meinen Regenmantel weggeworfen und meine Wollhaube unter einer hüftlangen blonden Perücke verborgen hatte, schien sie mich nicht zu erkennen.
Es erschien mir unmöglich, dass irgendjemand auf unsere lächerliche Verkleidung hereinfallen würde. Doch tatsächlich ließ uns die Polizistin ohne weitere Fragen ziehen, bevor sie damit begann, zwischen den Müllcontainern herumzustöbern. So schnell und unauffällig wir konnten, machten wir uns davon.
»Das ist ja gerade noch einmal gut gegangen«, seufzte Mülltoni nach einer Weile. Er strich sich erneut über den falschen Bart. Irgendwie schien er Gefallen daran gefunden zu haben.
Ich riss mir die Perücke vom Kopf und warf sie mitsamt des improvisierten Fächers in den nächsten Mülleimer. »Würdest du mir jetzt endlich verraten, worum es hier eigentlich geht?«, fragte ich genervt.
Mülltoni schwieg. Ich starrte ihn ohne Unterlass an. Diesmal war ich nicht bereit, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
»Na gut«, murmelte mein Freund schließlich. »Ich hatte mal was mit der Frau des Polizeichefs. Das hat diesem eifersüchtigen Typen nicht gefallen. Deshalb hat er seine Lakaien auf mich angesetzt…«
»Du… die Frau des Polizeichefs…«, stammelte ich verwirrt.
»Ja, das waren noch Zeiten. Wir waren jung und dumm«, sinnierte Mülltoni mit verträumtem Gesichtsausdruck. »Aber das tut nichts zur Sache. Da wir diese Typen jetzt endlich los sind: Wolltest du nicht Kresse kaufen?«
Ich nickte verdrießlich. Nun, da die Aufregung nachließ, hatte ich eigentlich keine große Lust mehr, meinen Auftrag zu erfüllen.

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