Auf der anderen Seite des Schreibtisches – Episode X

Expedition Dachboden

Auf der anderen Seite des Schreibtisches öffnete sich ein Tor in eine andere Welt. Ich stieg hindurch und hier bin ich nun – gefangen in einer Stadt, in der der Irrsinn herrscht.

Betont lässig schlenderte ich den Gang der Schule entlang, als würde ich hierhergehören. Links und rechts öffneten sich Türen zu Klassenzimmern, in denen Halbstarke aller Art herumlungerten. Das die Pause noch nicht vorüber war, gingen einige von ihnen recht fragwürdigen Freizeitbeschäftigungen nach. In jeder zweiten Klasse gab es eine Rauferei. Hier gingen zwei muskulöse Kerle in gefälschter Markenkleidung mit Fäusten aufeinander los, dort umkreisten zwei Mädchen in kurzen Röcken einander mit Klappmessern. Umstehende schlossen Wetten ab. Derweil hockten andere tuschelnd um Tische zusammen und versuchten das, was sich darauf befand mit ihren Körpern zu verdecken, während sie ständige gehetzte Blicke über ihre Schultern warfen. Viel zu oft sah ich auch Duliöhsüchtige, die ihre geliebten Spielkarten mit zitternden Händen umklammerten und jeden zornig anfauchten, der sich ihnen näherte.
Den Lehrer schienen die Vorgänge in den Klassenzimmern nicht zu kümmern. Den gefesselten Mülltoni auf seiner Schulter ging er mit großen Schritten den Gang entlang. Die meisten Schüler traten eilig den Rückzug an, sobald sie ihn sahen. Über eine breite Treppe stiegen wir in den ersten Stock hinauf, wo sich zwischen einer Abstellkammer und der Schulbibliothek das Büro des Lehrers befand. Ich kam nicht umhin zu bemerken, dass das Namensschild neben der Tür geschwärzt worden war. Mein Begleiter schätzte seine Anonymität offenbar sehr.
Das Büro selbst war ein kleiner unordentlicher Raum. Auf dem schmalen Schreibtisch in der Mitte und den Regalen, die zwei Seiten des Zimmers einnahmen, stapelten sich Bücher und Zeitungen, auf einer Kleiderstande rechts neben der Tür hingen zwei lange schwarze Mäntel und etwas, das wie eine sehr in Mitleidenschaft gezogene schusssichere Weste aussah. Die Wand gegenüber der Tür war mit Ausschnitten aus Zeitungen und Fotos bedeckt, die verschiedene Personen oder Orte zeigten. Bunte Fäden verbanden einzelne Bilder und Texte miteinander zu etwas, das aussah wie das Netz einer Spinne. In einer Ecke neben dem kleinen Fenster lehnten mehrere Schwerter in einem Schirmständer. An der Tür hing eine Dartscheibe, in der mehrere Geodreiecke, Klappmesser und Duliöhkarten steckten.
Es war mehr als offensichtlich, dass derjenige, der dieses Büro nutzte, sein Geld nicht allein durch das Unterrichten von Schülern verdiente. Der Lehrer ließ Mülltoni auf einen Sessel fallen und fesselte ihn mit Kabelbindern an die Lehne. Mein irregeleiteter Freund wehrte sich und versuchte durch meine Haube, mit der wir ihn geknebelt hatten, etwas zu sagen – wahrscheinlich ein Loblied auf den Meister und die Erlösung. Der Lehrer beachtete ihn nicht weiter. Stattdessen begann er die Schubladen seines Schreibtisches zu durchwühlen.
»Sie ist nicht hier«, stellte er gereizt fest. »Die Kassette mit ›Gehirnwäsche für Anfänger‹. Ich bin mir sicher, dass sie hier irgendwo war. Wahrscheinlich ist wieder eine dieser Gören hier eingebrochen und hat sie mitgehen lassen… Ich sollte dringen noch einmal mit der Direktion über das Anbringen von Sprengfallen sprechen.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte ich ernüchtert. War ich umsonst an diesen furchtbaren Ort gekommen?
»Im Archiv auf dem Dachboden sollte noch mindestens eine Kassette mit dem Film herumliegen«, überlegte der Lehrer. Er warf mir einen alten vergilbten Schlüssel zu, der an der Wand neben dem Fenster gehangen hatte. »Während du sie holst, kümmere ich mich um Fernseher und Videorekorder.«
»Aber ich weiß doch gar nicht, wo ich suchen soll«, wandte ich ein.
Der Lehrer baute sich vor mir auf und bedachte mich mit einem strengen Blick, als wolle er mir im nächsten Augenblick die Kehle durchschneiden. Dann nahm er mir den schwarzen Aktenkoffer ab, den er mir zur Aufbewahrung gegeben hatte. »Du wirst sie schon finden«, sagte er. »Über die Treppe im zweiten Stock neben der Cafeteria kommst du in den Dachboden. Die Videokassetten werden in einem Schrank hinter den ausgestopften Tieren aufbewahrt…«
Er öffnete die Tür, dann fügte er noch hinzu: »Vielleicht solltest du eines von denen mitnehmen.« Er nickte in Richtung der Schwerter, die im Schirmständer steckten. »Der Schulwart meinte jüngst, dort oben würde irgendetwas lauern. Vor fünfzehn Jahren soll einer meiner Kollegen ins Archiv gegangen sein… Er wurde nie wiedergesehen. Hin und wieder verschwinden wohl auch Schüler, die sich unbefugterweise dort oben herumtreiben…«
Ehe ich weitere Einwände erheben konnte, hatte er die Tür hinter sich geschlossen. Eine Weile starrte ich die Dartscheibe, die daran hing, mit ausdruckslosem Gesicht an. Die Duliöhkarten, die dort stecken, waren offensichtlich gefälscht. Alle Exemplare von Chlorchronischer Chaoschirurgencharakterchorcholeriker und Zähzeitiger Zangenzollzungenzahlenzeichner waren schon vor Jahren aus dem Verkehr gezogen worden. Mein Boss hatte höchstpersönlich Sorge dafür getragen.
Bei dem Gedanken an ihn stampfte ich wütend auf. Dieser Tag wurde immer absurder. Ich hatte in dieser Stadt ja schon einiges erlebt, aber bisher hatte noch niemand von mir verlangt, einen Ort aufzusuchen, an dem irgendein unbekannter Schrecken regelmäßig Leute verschwinden ließ. Mein Blick fiel auf den gefesselten Mülltoni.
»Das ist alles deine Schuld«, schnauzte ich ihn an. Statt sich zu einer Erwiderung herabzulassen, zu der er in seinem geknebelten Zustand ohnehin nicht fähig war, blickte er mich vorwurfsvoll an.
»Ich geh ja schon«, brummte ich missmutig.

Keine fünf Minuten später stand ich vor der Dachbodentür. Dem Rat des Lehrers folgend hatte ich mich bewaffnet. Nicht mit einem Schwert wie einer dieser irren Schüler, sondern mit einer großen leeren Weinflasche, die ich neben einem Papierkorb vor dem Lehrerzimmer gefunden hatte.
Sehnsüchtig schielte ich zur Cafeteria hinüber. Ich hatte immer noch großen Hunger. Auf der anderen Seite wusste ich nur zu gut, welche Art von Essen an solchen Orten für gewöhnlich serviert wurde. Schon bei dem Gedanken daran wurde mir schlecht. Außerdem hatte ich ohnehin keine Zeit dafür.
Also steckte ich den verstaubten alten Schlüssel in das dafür vorgesehene Schlüsselloch der ebenso alten und verstaubten Tür. Er ließ sich nur mit Mühe umdrehen, als hätte ihn schon lang niemand mehr benutzt. Als ich an der Klinke rüttelte, schwang die Tür dennoch ohne Schwierigkeiten auf und offenbarte eine steile Treppe, die sich in der Dunkelheit verlor.
Langsam und vorsichtig stieg ich die knarrenden Stufen hinauf. Immer wieder hielt ich inne, um auf Geräusche zu achten, die aus dem Raum über mir kommen mochten. Alles war still. Nach einer scheinbaren Ewigkeit fand ich mich dann in einem niedrigen, langgezogenen Raum direkt unterhalb des Dachstuhles wieder. Durch Lücken zwischen den Dachziegeln fielen vereinzelt Sonnenstrahlen von draußen. Eine andere Lichtquelle gab es nicht. Um mich herum konnte ich verschiedene Gerätschaften ausmachen. Zu meiner Rechten türmte sich ein Berg kaputter Möbel auf, die mit anstößigen Zeichnungen bedeckt waren. Zu meiner Linken hatte jemand aus vertrockneten Tafelschwämmen eine kleine Burg erbaut, in deren Mitte ein menschliches Skelett saß. In der Dunkelheit konnte ich nicht sagen, ob dieses echt war oder aus Kunststoff wie die, die im Biologieunterricht verwendet wurden.
Stille und Staub lagen über diesem Ort. Ich fühlte mich ein wenig wie ein Teilnehmer einer Expedition in das Grab eines lang verstorbenen Königs. Während ich einen Schritt vor den anderen setzte, umklammerte ich den Hals der leeren Weinflasche mit beiden Händen, bereit mich gegen alles zur Wehr zu setzen, was hier oben lauern mochte. Vorbei an einem Glasschrank, in dem Fläschchen voller Chemikalien standen, und etwas, das wie ein elektrischer Stuhl aussah, arbeitete ich mich zum anderen Ende des Dachbodens vor. Nichts regte sich.
Schließlich erreichte ich die ausgestopften Tiere, die der Lehrer erwähnt hatte. Fast drei Dutzend Vögel, Hunde und Katzen, aber auch übergroße Insekten starrten mich mit toten Augen an. Sogar ein Riesenkakerlak und ein missgestalteter Saurier waren darunter. Mit einem mulmigen Gefühl trat ich an den Präparaten vorbei, den Boden meiner Flasche auf sie gerichtet, um sie zurückzuschlagen, sollten sie unerwarteterweise wieder zum Leben erwachen.
Dann sah ich den Schrank mit den Videokassetten vor mir. Auf dem Boden davor ausgestreckt lag ein weiteres menschliches Skelett. Dieses war ohne Zweifel echt. Ich fragte mich, ob dies wohl die Überreste des Kollegen des Lehrers oder eines der verschollenen Schüler waren. Dann fragte ich mich, wie ich so seelenruhig über derartige Dinge nachdenken konnte. Mit einer Mischung aus Abscheu und Mitleid trat ich vorsichtig über das Skelett hinweg. Dann hatte ich nur noch den Schrank vor mir im Sinn.
Tatsächlich enthielt dieser mehr als hundert Videokassetten. Nachdem ich meine Flasche auf den Boden gestellt hatte, machte ich mich auf die Suche. Ich kam nicht umhin, mich darüber zu ärgern, dass die Kassetten nicht in alphabetischer oder sonst irgendeiner erkennbaren Reihenfolge geordnet waren. Gleichzeitig wunderte ich mich darüber, welche Art von Filmen man den Schülern dieser Einrichtung zu Unterrichtszwecken zeigte. Nicht nur, dass vieles davon auf keinen Fall jugendfrei war, fand ich zahlreiche Filme, die äußerst fragwürdige Ansichten zu beliebten Thematiken vertraten.
Dann endlich las ich die Aufschrift »Gehirnwäsche für Anfänger« auf einer der Hüllen. Mit einem erleichterten Seufzen nahm ich die Kassette an mich, als hinter mir ein gurgelndes Geräusch ertönte. Noch während ich mich umdrehte, griff ich nach meiner Weinflasche, um mich einem namenlosen Schrecken gegenüberzusehen.

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