Auf der anderen Seite des Schreibtisches – Episode XIV

Zwischen den Fronten

Auf der anderen Seite des Schreibtisches öffnete sich ein Tor in eine andere Welt. Ich stieg hindurch und hier bin ich nun – gefangen in einer Stadt, in der der Irrsinn herrscht.

Eben war ich den schummrigen Gängen der Schule entkommen, schon sah ich mich einer neuen, viel unangenehmeren Lage gegenüber. Die Freude über die gelungene Flucht verblasste im Angesicht dessen, was mich auf dem verwahrlosten Schulhof erwartete. War ich tatsächlich gerade mit knapper Not zwei Duliöhsüchtigen entwischt, nur um einer ganzen Horde in die Arme zu laufen?
Um den einsamen Baum, der aus dem löchrigen Asphalt in der Mitte des Hofes ragte, hatten sich Dutzende – nein Hunderte – ausgemergelter Halbstarker versammelt, die sich kaum voneinander unterschieden. Ein Gesicht sah aus wie das andere. Alle trugen sie denselben Scheitel, alle hatte sie sich die Haarspitzen rosarot gefärbt. Selbst die Risse in ihren schwarzen Hosen glichen einander. Alle haten sich zum Schutz vor dem verhassten Sonnenlicht in türkise Pullover mit riesigen Kapuzen gehüllt. Nicht, dass das unter dem bewölkten Himmel notwendig gewesen wäre.
Alle Duliöhsüchtigen der ganzen Stadt schienen sich aus irgendeinem Grund auf diesem Schulhof zusammengerottet zu haben, um mir das Leben schwer zu machen. Nicht, dass ich nicht auch ohne sie bereits genügend Probleme gehabt hätte. Mein Blick fiel auf meinen Freund Mülltoni, der mit ausdruckslosem Gesicht hinter mir stand. Was auch immer da auf mich zukam, er würde mir dabei in seinem Zustand keine große Hilfe sein.
Fieberhaft sah ich mich nach einem Ausweg um, nur um festzustellen, dass es keinen gab. An allen Zugängen zum Hof hatten Duliöhsüchtige Aufstellung bezogen. Durch die Hintertür in die Schule zurückzukehren, stand ebenfalls außer Frage. Ich saß in der Falle. Gleichzeitig wandten sich die Blicke hunderter vor wirrem Verlangen glitzernder Augen mir zu.
Ich würde mir meinen Weg wohl freikämpfen müssen. Oder ich trennte mich freiwillig von meinen Duliöhkarten… Allerdings hatte ich bei weitem nicht genügend davon bei mir, um die Meute zufriedenstellen zu können. Mein Blick wanderte die Fenster hinter mir hinauf zum ersten Stockwerk der Schule, in dem das Büro des Lehrers lag. Der Mann hatte mir schon zuvor geholfen. Womöglich würde er mir auch dieses Mal zur Seite stehen. Doch die Pause war längst vorüber, der Unterricht bereits wieder voll im Gange. Vom Lehrer durfte ich wohl einstweilen keine Hilfe erwarten. Ich war auf mich allein gestellt.
»Randalf der Raue«, ertönte eine Stimme aus der Menge.
Leise murmelnd wichen die Duliöhsüchtigen zur Seite, um eine Gasse zu bilden und jemanden durchzulassen. Eine große, schlanke Frau trat nach vorn. Auch ihr Haar hatte rosarote Spitzen, auch ihr Gesicht war ausgemergelt. Statt eines türkisen Pullovers trug sie einen langen Mantel derselben Farbe. Ihre Kapuze hatte sie zurückgeschlagen. Dadurch waren deutlich ihre Ohrringe zu sehen, an denen Duliöhkarten baumelten – Trotztote Triebtalgtannentortentür am rechten und Lächerlichlanges Luftlurchlagelärmloch am linken.
Es war das erste Mal, dass ich eine weibliche Duliöhsüchtige sah. Zwar hatte ich Gerüchte gehört, dass es sie gab, doch ernst genommen hatte ich sie eigentlich nicht. Die anderen Duliöhsüchtigen schienen jedenfalls aus irgendeinem Grund großen Respekt vor dieser Frau zu haben. Offenbar nahm sie in ihren Reihen eine hohe Stellung ein.
»Du hast da etwas, das wir gerne hätten«, sagte sie, als sie sich vor mir aufbaute. Ihre Stimme war heiser, ihr Blick so hart wie Stahl.
»Ich wüsste nicht, was das sein sollte«, entgegnete ich. Unbewusst wanderte meine Hand in meine Hosentasche, die immer noch voller ebenso alter wie wertvoller Duliöhkarten war.
»Spiel nicht den Dummen!«, fauchte die Frau mich an. »Ich weiß aus sicherer Quelle, dass du vor nicht allzu langer Zeit in den Besitz einiger wahrer Schätze gelangt bist.«
»Deine Quellen müssen sich irren«, erwiderte ich, als hätte ich nichts zu verbergen. Es war mir schleierhaft, wie diese Leute von meinen seltenen Karten erfahren hatten können. Seit ich sie auf dem Dachboden der Schule gefunden hatte, war nur etwas mehr als eine Stunde vergangen. Von einem furchteinflößenden Ungeheuer abgesehen, hatte niemand gewusst, dass ich sie besaß und Xqyzqyzqyz hatte mich sicherlich nicht verraten. Das änderte leider nichts daran, dass ich nun einer Armee gegenüberstand.
Schnüffelnd sog die Frau vor mir Luft durch ihre Nase ein. »Ich rieche sie…«, sagte sie mit beinahe sinnlicher Stimme. »Alles an dir riecht nach wertvollen Karten. Du wirst sie mir jetzt übergeben oder…«
»Oder was?«, erwiderte ich trotzig.
Ein raubtierhaftes Grinsen breitete sich auf dem Gesicht der Duliöhsüchtigen aus. Dabei entblößte sie ihre angespitzten Eckzähne. »Schmerzen«, sagte sie. »Eine Welt voller Schmerzen… Du hast die Wahl.«
Ehe ich ihr sagen konnte, was ich von diesem Angebot hielt, erhob sich eine laute Stimme über dem Hof. »Haltet ein, ihr möhrenloses Gesindel!«
An allen Zugängen zum Hof waren Gestalten in langen, schwarzen Priesterroben erschienen. Sie alle trugen einfache Halskette mit Symbol der Kirche der Karotte. Ein großer, kräftiger Mann mit einem vernarbten Gesicht und einer runden Brille auf der Nase trat unter den verwirrten Blicken der Duliöhsüchtigen nach vorn. Seine Haltung strahlte Autorität aus. »Der heiligen Kirche der Karotte kam zu Ohren, dass auf diesem Schulhof eine Versammlung schändlicher Heiden abgehalten würde, die das Spiel des Hasen spielen. Ich, Pater Daucus Blasphemius, bin gekommen, um diesem sündigen Treiben ein Ende zu bereiten…«
Ich konnte ein angestrengtes Seufzen nur mit Mühe unterdrücken. Die Kirche der Karotte hatte mir gerade noch gefehlt. Die Anhänger dieser Glaubensrichtung waren allesamt Fanatiker. Nicht nur, dass sie selten eine Gelegenheit ausließen, Ungläubige zu bekehren. Meinen Arbeitgeber Horses und alles, was mit ihm zu tun hatte, hielten sie für Ausgeburten des Bösen. Sie würden wohl kaum gut auf mich zu sprechen sein.
»Dein Gott hat hier keine Macht, Priester!«, erwiderte die Duliöhsüchtige. »Verschwinde von hier, wenn du weißt, was gut für dich ist.«
»Die heilige Karotte hat überall Macht und wir sind ihre rächende Faust!«, erwiderte der Priester. »Inquisitionskommando! Prügelt diesen Heiden den Willen der frommsten aller Feldfrüchte ein!«

Von einem Augenblick auf den anderen fand ich mich plötzlich inmitten eines Schlachtfeldes wieder. Überall auf dem Schulhof schlugen sich Duliöhsüchtige mit Möhrenjüngern. Zwar war das Inquisitionskommando der Kirche der Karotte zahlenmäßig weit unterlegen, doch waren diesen Anhänger wohl allesamt erfahrene Schläger. Einer von ihnen schien es durchaus mit einem Dutzend der kartensüchtigen Halbstarken aufnehmen zu können.
Ich stand in Gesellschaft des weggetretenen Mülltoni am Rande des Wahnsinns und fragte mich, wo ich da schon wieder hineingeraten war. Allerdings hatte ich keine Gelegenheit allzu lange über meine Lage nachzudenken, denn schon stürzten sich einige verirrte Duliöhsüchtige auf mich. Mit Müh und Not wich ich ihren Angriffe aus, nur um zur Mitte des Hofes hin abgedrängt zu werden.
Es war höchste Zeit von diesem Ort zu verschwinden. Vielleicht konnte ich mir sogar die allgemeine Unordnung zunutze machen und mich zur Straße durchschlagen. Entschlossen setzte ich mich also, Mülltoni an der Hand, in Bewegung.
Immer wilder tobte der Kampf um mich herum. Offenbar waren die Verhältnisse so ausgeglichen, dass keine der beiden Seiten einen Vorteil für sich erringen konnte. Während ich zugleich Möhrenjünger und Duliöhsüchtige abwehrte, näherte ich mich langsam aber sicher dem Rand des Schulhofes. Schon sah ich die Freiheit vor mir, da stolperte ich über eine am Boden liegende Duliöhleiche und verlor das Gleichgewicht.
Mit einem zornigen »Karten! Karten! Kaaaarten!« stürzten sich drei weitere Duliöhleichen auf mich und hinderten mich daran, aufzusehen, während sie gleichzeitig versuchten, mich zu beißen. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen, doch es gelang mir nicht, mich aus ihren Fängen zu befreien.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Mülltoni unbewegt inmitten der Schlacht stand und ins Leere starrte. »Vielleicht wäre es an der Zeit, dass du mir ein wenig hilfst«, rief ich ihm zu.
Mit zunehmender Verzweiflung schlug ich in dem Versuch mich zu befreien um mich. Es hatte keinen Zweck. So lächerlich meine Feinde auch aussahen, sie waren zu stark für mich. Mit einer einzelnen Duliöhleiche hätte ich es vielleicht aufnehmen können, drei waren zu viel für mich.
»Mülltoni, hilf mir, verdammt noch mal!!!«, brüllte ich. Vergebens. Schon spürte ich, wie mich die Kraft verließ. Zu anstrengend war dieser Tag gewesen. Zu ausweglos die Lage. War dies nun mein Ende?
Plötzlich ließen die Duliöhleichen von mir ab. Kräftige Hiebe schleuderten zwei von mir fort, sodass ich die dritte von mir herabwälzen konnte. Neben mir stand Mülltoni. Entschlossenheit lag in seinem Blick. Er hielt mir einen seiner Henkel entgegen und sagte: »Komm mit mir, wenn du leben willst!«
Ohne zu zögern ergriff ich den Henkel. Gemeinsam kämpften wir uns über den Schulhof hin zur rettenden Straße. Dann endlich ließen wir das Schlachtfeld hinter uns.

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