Auf der anderen Seite des Schreibtisches – Episode XV

Umleitung zum Umweg

Auf der anderen Seite des Schreibtisches öffnete sich ein Tor in eine andere Welt. Ich stieg hindurch und hier bin ich nun – gefangen in einer Stadt, in der der Irrsinn herrscht.

Während ich die verlassene Straße entlang weg von der Schule eilte, wurden die Geräusche des Kampfes hinter mir leiser. Immer noch prügelten sich dort Möhrenjünger mit Duliöhsüchtigen, aber das konnte mir jetzt egal sein. Im Nachhinein betrachtet, war ich Pater Blasphemius und seinem Inquisitionskommando sogar dankbar dafür, dass sie aufgetaucht waren. Vielleicht würde ich der Kirche, wenn ich das nächste Mal an einem ihrer Gotteshäuser vorbeikam, eine Karotte oder sogar zwei spenden.
Vorerst war ich jedoch einfach nur froh, der Schlacht entkommen zu sein. Am Ende der Straße, wo ich den Lärm vom Schulhof kaum noch hören konnte, blieb ich stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Meine Lungen brannten vor Anstrengung, mein Magen knurrte laut. Im Augenblick schenkte ich beidem nicht sonderlich viel Aufmerksamkeit. Hinter mir kam Mülltoni schnaufend zu stehen.
»Alter, was war das denn?«, fragte er schwer atmend. »Da hält man einmal ein Mittagsschläfen und wacht auf irgendeinem Schlachtfeld auf. Wie sind wir überhaupt da hin gekommen?«
Ich blinzelte ihn verwirrt an. »Du erinnerst dich an nichts?«
»Nö, Mann«, erwiderte Mülltoni. »Dieses Sandwich war köstlich… Gutes Essen macht mich immer schrecklich müde. Ich habe mich nur kurz hingelegt, um ein bisschen zu dösen… Was war denn los?«
Ich schwieg. Vielleicht war es besser, wenn ich ihm nicht davon erzählte, dass er nach dem Konsum des besagten Sandwichs versucht hatte, mich gewaltsam zur Domus-Sekte zu konvertieren. Oder dass ihn der Lehrer einer Gehirnwäsche unterzogen hatte, um ihn aus den Fängen besagter Sekte zu befreien. Jetzt, da er wieder einigermaßen normal war – so normal eine sprechende Mülltonne eben sein konnte – sah ich keinen Grund, ihn mit diesem Wissen zu belasten.
»Nichts weiter«, sagte ich also, bemüht, möglichst beiläufig zu klingen.
»Dann ist ja gut…«, erwiderte Mülltoni gähnend. »Also dann: Wo waren wir? Hast du inzwischen Lügenkresse auftreiben können?«
Meine Freude über Mülltonis unverhoffte Genesung verflog, während ich den Kopf schüttelte. Diese verdammte Lügenkresse! Was hatte ich ihretwegen an diesem Tag schon auf mich nehmen müssen? Und doch war ich dem begehrten Gemüse kein Stück nähergekommen. Schon spielte ich mit dem Gedanken, meinen Boss anzurufen, um ihm zu sagen, er solle jemand anderen für diesen Botengang einspannen. Doch Horses hatte mich seinen besten Mann genannt. Wie hätte ich mich da guten Gewissens schon geschlagen geben können?
So entschloss ich mich, noch einen Versuch zu unternehmen. Nachdem ich zu Atem gekommen war, hielt ich also Ausschau nach dem nächsten Supermarkt. Nicht, dass ich allzu große Hoffnungen hegte, dass ich dort fündig werden würde. An einem Laternenpfahl zu meiner Linken bemerkte ich einen schwarzen Flyer, auf dem in roter Schrift geschrieben stand: »Gruftmarkt: Neueröffnung in der Blumenallee 84. Noch 200 Meter geradeaus, dann rechts.«
Ich verzog das Gesicht. Ich konnte Gruftmarkt nicht ausstehen. Die Preise waren meist ziemlich überteuert, die Qualität der Produkte dagegen buchstäblich unterirdisch. Niemand, den ich in dieser Stadt kennengelernt hatte, kaufte freiwillig bei Gruftmarkt ein – zumindest kein zweites Mal. Aber vielleicht würde ich ja gerade deshalb dort fündig werden.
Also setzte ich mich in Bewegung. Mülltoni folgte mir auf dem Fuße. Er schien tatsächlich ganz der Alte zu sein. Nach ein paar Schritten fing er sogar wieder damit an, über das Musikprojekt zu sprechen, das er aus irgendeinem Grund gemeinsam mit mir auf die Beine stellen wollte. Als wir die Blumenallee erreicht hatten, hatte ich bereits wieder mehr als genug von seinem Geschwafel und fragte mich ernsthaft, weshalb ich mich so bemüht hatte, ihn aus den Klauen der Domus-Sekte zu befreien.
Schon erhob sich vor uns – keine fünfzig Meter entfernt – auf der anderen Straßenseite das unheilverkündende, schwarz gestrichene Gebäude des Gruftmarkts. Allerdings gab es da ein Problem. Von Blumen war auf der Blumenallee nichts zu sehen. Stattdessen lagen überall auf der Straße die brennenden Wrackteile eines großen Öltankers herum. Direkt vor mir erhob sich das, was von der Brücke übrig geblieben war und warf einen bedrohlichen Schatten auf die umliegenden Häuser. Die ganze Straße entlang stand der Asphalt selbst größtenteils in Flammen. Es stank nach Rauch und Treibstoff. Ein lächerliches, gelb und schwarz gestreiftes Plastikband grenzte den Unfallort vom Gehsteig ab. Daran hing ein Schild mit der Aufschrift: »Betreten und befahren der Straße bis auf weiteres verboten! Kinder haften für ihre Eltern! Aufräumarbeiten in spätestens zwanzig Jahren abgeschlossen.«
Mülltoni lehnte sich gegen das Band und sog die giftigen Dämpfe genüsslich ein. »Alter! Da hat sich wohl jemand krass im Kurs vertan, was?«, bemerkte er.
Ich seufzte angestrengt. Vor einem halben Jahr hätte ich mich vielleicht noch gefragt, wie es sein konnte, dass ein Schiff mitten in der Stadt auf einer Straße strandete. Jetzt war es für mich nur ein weiteres Ärgernis. Genervt ließ ich meinen Blick schweifen und bemerkte zu meiner Rechten ein weiteres Schild, auf dem »Umleitung zum Gruftmarkt« geschrieben stand. Ein gelber Pfeil verwies auf eine nahe Treppe, die offenbar zu einer Unterführung hinabführte. Auf der anderen Seite der Straße sah ich direkt vor dem Gruftmarkt eine zweite Treppe.
Nun, das war einfacher als erwartet, dachte ich verblüfft, als ich, gefolgt von Mülltoni die Stufen hinabstieg. Unten angekommen, betrat ich einen schummrigen, von flackernden Neonröhren beleuchteten Tunnel. Die Wände aus Beton waren mit anstößigen Graffiti bedeckt, die Saurier und Menschen in recht eindeutigen Stellungen zeigten, am Boden sammelte sich Müll. Ein widerwärtiger Gestank erfüllte die Unterführung, die aus irgendeinem Grund nicht geradeaus unter der Straße verlief, sondern in einem weiten Bogen nach Rechts abwich. Schließlich endete sie an einer geschlossenen Gittertür. »Gerader Weg zum Gruftmarkt. Geöffnet bei Neumond zwischen Mitternacht und Morgengrauen« stand dort. Glücklicherweise gab es links und rechts zwei weitere, offene Durchgänge – »Langer Umweg zum Gruftmarkt« stand über dem linken, »Kurzer Umweg zum Gruftmarkt« über dem rechten.
Dass in dieser Stadt auch nichts wirklich einfach sein konnte, dachte ich kopfschüttelnd. Dann trat ich in den rechten Durchgang, ohne auf das Zusatzschild »Nur für Kakerlaken« zu achten, das von der hässlichen Decke hing. Über eine lange Wendeltreppe führte der Weg weiter in die Tiefe. Mit jeder Stufe wurde der Gang enger und zugleich niedriger, bis ich schließlich nicht mehr aufrecht stehen konnte. Nirgendwo war ein Ende in Sicht.
»Ich denke, wir sind hier falsch«, bemerkte Mülltoni überflüssigerweise.
Also kehrten wir zur Abzweigung zurück und wählten den anderen Durchgang. Dieser öffnete sich zu einem Tunnel, der in engen Schlangenlinien zu einer weiteren Weggabelung führte. »Umweg zum Umweg« über dem rechten Gang, aus dem der deutliche Geruch von verwesendem Fleisch drang, »Rückweg vom Gruftmarkt« war über dem anderen zu lesen. Mülltonis Protesten zum Trotz betrat ich den zweiten Weg, hatte ich doch das Gefühl, dass mich der Umweg zum Umweg ohne Umweg in den Rachen eines Ungeheuers führen würde.
Nach wenigen Minuten fand ich mich am Fuß einer ebenso breiten wie steilen Rutsche aus Beton wieder, die von flackernden Fackeln erhellt wurde. Von oben wehte mir ein frischer Lufthauch entgegen, doch war die Rutsche leider zu steil, um sie ohne Hilfsmittel zu erklimmen. Widerwillig erkannte ich, dass ich erneut den falschen Weg gewählt hatte. Da fiel mein Blick auf ein Loch, das jemand offenbar mit Gewalt in die Wand zu meiner Linken gesprengt hatte. Darüber stand in einer roten Farbe, die verdächtig nach Blut aussah, »Umleitung zum Umweg« geschrieben.
»Was soll das jetzt wieder bedeuten?«, fragte ich Mülltoni, doch dieser zuckte nur mit seinen Henkeln.
Da ich keine Lust hatte, noch einmal umzukehren, trat ich durch das Loch und fand mich in einem düsteren, aus roten Ziegelsteinen gemauerten Gang wieder, der alsbald in einer weiteren mit Graffiti bedeckte Unterführung endete. Eine scheinbare Ewigkeit irrte ich mit Mülltoni von einer Abzweigung zur anderen. Manche davon führten in Sackgassen, andere im Kreis herum. In einer entdeckte ich ein Nest von Duliöhleichen, in einer anderen konsumierten ein paar dürre Saurier berauschende Substanzen.
Als ich ein weiteres Mal vor einer Abzweigung stand, war ich kurz davor aufzugeben. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich hoffnungslos verirrt hatte und das Tageslicht nie wiedersehen würde. Würde diese lächerliche Unterführung mein Grab werden? Ich griff nach Handy. Vielleicht konnte ich meinen Boss um Hilfe bitten. Doch natürlich hatte ich keinen Empfang.
Vor Verzweiflung fing ich an zu kichern. Mülltoni stöberte derweil zwischen ein paar aufgeplatzten Müllsäcken und allerlei sonstigem Unrat herum, der sich in einem der Durchgänge gesammelt hatte. Von dort hob er eine hässliche Puppe auf, an deren Arme jemand mit Wäscheklammern zwei Duliöhkarten geheftet hatte. Es waren wertlose Karten – »Achtartiges Almabtalkoholamtsauto« und »Kalkkranke Kieferkontrollkarpfenknallkrippe«. Nicht, dass das noch irgendeine Rolle gespielt hätte.
»Vielleicht hilft uns ja dieser Glücksbringer, den richtigen Weg zu finden?«, schlug Mülltoni vor, indem er mir die Puppe entgegenhielt. Sie kam mir seltsam bekannt vor, glich sie doch – mit Ausnahme der beiden Karten – jener, die ich in der Schule zurückgelassen hatte. Das aufgenähte Grinsen in ihrem bleichen Gesicht jagte mir einen Schauer über den Rücken. Trotzdem nahm ich sie, fast gegen meinen Willen an mich.
Dann wählte ich den linken Weg. Tatsächlich behielt Mülltoni wider Erwarten recht, denn nur wenige Schritte weiter sah ich die Treppe, die nach oben ins Freie führte. Die letzten Schritte nach draußen rannte ich beinahe – froh darüber, dem unterirdischen Irrgarten entkommen zu sein. Nur wenige Meter vom Gruftmarkt entfernt gelangte ich im Licht der untergehenden Sonne zurück an die Erdoberfläche.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert