Auf der anderen Seite des Schreibtisches – Episode XX

An der Kassa

Auf der anderen Seite des Schreibtisches öffnete sich ein Tor in eine andere Welt. Ich stieg hindurch und hier bin ich nun – gefangen in einer Stadt, in der der Irrsinn herrscht.

Mit einem triumphierenden Lächeln legte ich meine Einkäufe aus das Kassaband. Die Menschenmenge hinter mir begann sich langsam zu zerstreuen. Einige Kunden warfen mir einen finsteren Blick zu, andere murmelnden leise Flüche. Bei meinem nächsten Besuch in diesem Land würde ich mich in Acht nehmen müssen. Nicht, dass ich vorhatte, so bald wieder hier einzukaufen.
Vorerst galt mein Augenmerk aber der Lügenkresse. Sie lag bereits sicher jenseits des Kassabandes und wartete nur noch darauf, von mir mitgenommen zu werden. Während die Verkäuferin den schillernden Mantel und die Sonnenbrille scannte, die ich mir hatte aufschwatzen lassen, kletterte Mülltoni unbeholfen vom Kassaband. »Alter, was war das denn für eine Aktion?«, fragte er mich außer Atem. »So viel Kraft hätte ich dir gar nicht zugetraut! Aber könntest du mich das nächste Mal warnen, bevor du mich wirfst?«
»Ich werde es versuchen«, sagte ich. Abwesend kramte ich meine Geldbörse aus meiner Hosentasche. Wie alles, was ich besaß, hatte sie bereits bessere Zeiten gesehen. Und leider war sie – mit Ausnahme einer Mottenfamilie, die sich zwischen ein paar abgelaufenen Gutscheinen eingenistet hatte – ziemlich leer. Alles, was blieb, waren ein paar vereinzelte Münzen.
»Das machte dann 3478 Gölld und 20 Tenz«, sagte die Verkäuferin, indem sie auf die Anzeige neben der Kassa verwies.
»3478 Gölld?«, fragte ich entsetzt. »Warum so viel? Dafür könnte ich mir ja ein Auto kaufen!«
»Was weiß denn ich?«, erwiderte die Verkäuferin gelangweilt. »Vielleicht ist der Mantel mit einem quecksilberabweisenden Lack besprüht und die Brille in Gold eingefasst …«
»Gut, dann lasse ich die Sachen eben hier«, sagte ich. »Ich brauche sowieso nur die Kresse.«
»Das geht leider«, entgegnete die Verkäuferin. »Sie haben die Duliöhkarten angenommen, die es als Sonderangebot zu Mantel und Brille gab. Dadurch haben Sie sich vertraglich verpflichtet, beides unter Einhaltung der Teilnahmebedingungen zu kaufen.«
»Dann lasse ich die Karten auch hier«, entschied ich. Eilig durchsuchte ich mein Duliöhkartendeck nach besagten Karten, aber ich fand sie nicht. Da waren zwar »Dürrdichter Dauerdeckendatendrachendirektor« und »Richtigrüstiger Randrumreiterrabaukenrabe«, aber nicht die beiden, die ich brauchte. Ich sah mir die Karten ein zweites Mal durch – ohne Erfolg. Das konnte doch nicht sein. Sie mussten hier irgendwo sein. Ich begann zu schwitzen. »Ich muss sie wohl verloren haben …«
Die Verkäuferin verdrehte die Augen. »Ja, natürlich. Wenn Sie das sagen. Dann macht es Ihnen sicher nichts aus, Mantel und Brille einfach zu bezahlen und die Kassa freizumachen.«
»Gibt es denn keine andere Möglichkeit?«, fragte ich kleinlaut.
»Woher soll ich das wissen?«, entgegnete die Verkäuferin bissig. Sichtlich genervt holte sie unter der Kassa einen dicken Katalog hervor, auf dem »Richtlinien im Umgang mit Kunden, Sonderangeboten und anderen Ärgernissen« geschrieben stand. Langsam und vorsichtig schlug sie das Heft auf, wobei sie eine dichte Staubwolke aufwirbelte. Dann begann sie mit einer Lupe darin zu lesen, wobei sie leise vor sich hinmurmelte.
Meine Anspannung wuchs, während ich auf eine Antwort wartete. Fünf Minuten vergingen, dann zehn. Mülltoni hüpfte zu meiner Linken pfeifend vor der automatischen Ausgangstür hin und her, die sich immer wieder quietschend öffnete und schloss. Mein Blick schweifte zu der Uhr, die darüber angebracht war. Obwohl es draußen bereits dunkel geworden war, standen deren Zeiger kurz vor Mittag.
»Also?«, fragte ich schließlich, als ich es nicht mehr aushielt.
»Was?«, rief der Verkäuferin und blinzelte erschrocken. Offenbar war sie beim Lesen der Richtlinien eingeschlafen.
»Karten, Sonderangebot, Mantel, Brille«, half ich ihr auf die Sprünge.
»Wie meinen?«, fragte sie sichtlich verwirrt, dann rieb sie sich den Kopf. »Ach so, das. Warten Sie bitte einen Augenblick. Ich muss das nachschlagen.« Sie blätterte um, las ein paar Zeilen, dann schlief sie wieder ein und begann sogar leise zu schnarchen.
»Hallooo?«, rief ich, langsam ebenfalls etwas genervt. »Was ist jetzt damit?«
Die Frau schreckte augenblicklich aus dem Schlaf hoch und starrte mich missmutig an. »Ja, ja«, sagte sie. »Wie ich Ihnen schon gesagt habe, steht hier nicht über Sonderangebote, die Duliöhkarten beinhalten. Da müssen Sie schon mit dem Filialleiter sprechen.«
Ich seufzte laut. »Könnte ich dann bitte mit dem Filialleiter sprechen?«
»Der hat wahrscheinlich gerade Mittagspause«, entgegnete die Verkäuferin mit einem Blick auf die stehengebliebene Uhr. Als ich mich nicht von der Stelle rührte, fügte sie hinzu: »Also gut, ich werde ihn rufen.«
Unter der Kassa zog sie ein altertümlich anmutendes, mit silbernen und goldenen Runen verziertes Horn hervor. Als sie hineinblies, erhob sich ein Geräusch, das so laut und durchdringend war, dass ich es im ganzen Körper spüren konnte. Mit einem lautlosen Schrei hielt ich mir die Ohren zu. Staub rieselte von der Decke.
»Leider ist unsere Durchsagevorrichtung gerade kaputt«, hörte ich die Verkäuferin sagen, während der Widerhall des Geräusches langsam verklang. Das Klingeln in meinen Ohren war so laut, dass ich sie kaum verstand. »Warten Sie bitte hier. Es wird wohl nicht allzu lange dauern …«
Ich nickte stumm.


Während ich auf den Filialleiter wartete, erholte sich mein Gehör langsam. Mülltoni unterhielt sich indessen mit der Verkäuferin. Offenbar war er so angetan von ihrer Arbeit mit dem Horn, dass er sie für sein neues Musikprojekt anwerben wollte. Sie schien dieser Vorstellung zwar nicht ganz abgeneigt zu sein, zeigte sich aber trotzdem zögerlich.
Ich gähnte laut. Beinahe wäre ich im Stehen eingenickt, als mich das Schrillen meines Handys aus meinen Gedanken riss. Horses, natürlich war es Horses. »Was?«, blaffte ich das Telefon an. »Ich habe deine Kresse. Jedenfalls fast. Ich muss nur noch aus diesem blöden Gruftmarkt raus. Wenn du mich besser bezahlen würdest, wäre ich das auch schon längst. Jetzt muss ich auf den Filialleiter warten, damit er …«
»Randalf«, erwiderte mein Auftraggeber mit seiner ruhigen, tiefen Stimme. »Ich habe vollstes Vertrauen in dich. Ich wollte dir nur sagen, dass ich dir einen Wagen vorbeischicke, um dich abzuholen und zu Luigi dem Lappen zu bringen. Es ist ja schon dunkel da draußen. Nicht, dass du noch irgendwelchen zwielichtigen Leuten in die Arme rennst.«
»Zu freundlich«, erwiderte ich gereizt. »Daran hättest du ruhig früher denken können. Aber besser spät als nie, schätze ich …« Ich seufzte. »Also gut, ich bin in der …«
»Ich weiß«, erwiderte Horses. »Ciao.« Dann legte er ohne eine weiteres Wort auf.
Kopfschüttelnd steckte ich mein Handy weg. Ich hatte keine Lust mehr, mich über irgendetwas zu ärgern. Am liebsten hätte ich mich einfach auf den Boden gelegt und geschlafen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ich in einem Supermarkt übernachtet hätte. Allerdings hatte ich immer noch einen Auftrag zu erledigen.
So wartete ich eine weitere Viertelstunde, bis der Filialleiter erschien. Ein großer, überaus kräftiger Saurier mit spitzen, hervorstehenden Zähnen war er. Er trug ein Hemd, das fast aus den Nähten platzte, eine Anzughose und eine viel zu kleine Brille. »Kunibert Krankenschein – leitender Gruftwächter«, stand auf seinem Namensschild. »Was ist denn?«, grunzte er die Verkäuferin an, die im Sitzen nicht einmal halb so groß war wie er. »Haben Sie sich schon wieder einen Nagel abgebrochen? Der Leim liegt rechts unter der Kassa neben dem Schwimmreifen.«
»Dieser Herr da möchte vom Kauf zurücktreten, hat aber die Karten verloren, die er im Sonderangebot erhalten hat«, erwiderte die Verkäuferin mürrisch, indem sie zuerst auf Mantel und Brille, dann auf mich zeigte.
»So?«, sagte der Filialleiter, indem er seine riesige Nase rümpfte. »Verloren also? Können Sie das auch beweisen?«
»Wie soll ich beweisen, dass ich etwas nicht mehr habe, was ich nicht mehr habe?«, entgegnete ich.
»Eine gute Frage«, gestand mir der Filialleiter zu, indem er seine Brille zurechtrückte. »Gibt es vielleicht eine Videoaufzeichnung davon?«
Die Frage war offenbar an die Verkäuferin gerichtet. Diese zuckte nur mit den Schultern. »Die Überwachungskameras werden seit letzten Monat gewartet, Herr Krankenschein. Ihr Bruder wollte das machen, haben Sie gesagt. Er war leider noch immer nicht da …«
»Ah ja, ich erinnere mich«, sagte der Filialleiter. »Nun, in diesem Fall gibt es klare Regeln. Wie spät ist es?«
»Fünf vor zwölf«, antwortete die Verkäuferin mit einem Blick auf die Uhr über der Tür.
»Verstehe, verstehe«, sagte der Saurier. »In diesem Fall muss ich leider darauf bestehen, dass Sie Mantel und Brille wie vereinbart bezahlen und mitnehmen. Wären Sie erst am Nachmittag gekommen, hätten wir beides zurücknehmen können.«
»Es ist aber nicht fünf vor zwölf«, erwiderte ich genervt. »Schauen Sie doch mal aus dem Fenster! Sehen Sie denn nicht, dass es schon Abend ist?«
Das tat der Filialleiter. »Ach ja?«, sagte er. »Können Sie das beweisen?«
Ich hielt ihm mein Handy unter die Nase. Er beugte sich zu mir herab und nahm seine Brille ab, um die Uhrzeit zu betrachten, die auf dem Display zu sehen war. »Tatsächlich«, sagte er nach einer Weile. »Dann muss unsere Uhr wohl stehen geblieben sein.«
Dann richtete er sich wieder zu voller Größe auf und räusperte sich. »Wenn das so ist, ist Gruftmarkt Ihnen zu großem Dank verpflichtet. Da Sie uns auf diesen technischen Defekt hingewiesen haben, geben wir ihnen einen Rabatt von 99,9 Prozent auf Ihren heutigen Einkauf. Guten Abend!«
Ohne ein weiteres Wort stampfte er davon. Die Verkäuferin tippte irgendetwas auf ihrer Tastatur ein. Die Zahl auf der Anzeige sprang von 3478,2 auf 3,4782. Es hatte keinen Sinn zu hinterfragen, was gerade geschehen war oder warum. Ich reichte der Verkäuferin eine Drei-Gölld- und zwei Fünfundzwanzig-Tenz-Münzen, nahm das Wechselgeld und meine Einkäufe und verließ den Laden.

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